Montag, 31. Dezember 2012

Auch Engel trinken Whisky


„Angel’s Share“ von Regisseur  Ken Loach 


Whiskey und  Sozialromantik:  In „Angel’s Share“ schlägt Regisseur  Ken Loach („Sweet Sixteen“, The Wind That Shakes The Barley“) ein paar neue Töne an. Gewöhnlich trinken seine Helden von der Straße billiges Bier und Schnaps aus dem Supermarkt, um sich voll  dröhnen zu lassen und den trostlosen Alltag zu vergessen. Man denke nur an den Alkoholiker aus „My Name ist Joe“, der nach einem Knastaufenthalt  ein neues Leben anfangen will. Seit fast 50 Jahren ist Loach (76)  der Anwalt der von der Gesellschaft Benachteiligten. Zusammen mit seinem langjährigen Drehbuchautoren Paul Laverty arbeitet er ähnlich wie einst Honoré de Balzac (1799 – 1850) an einer Menschlichen Komödie, nur das der Fokus bei Loach  ausschließlich auf den „working class heros“ liegt, die das auszubaden haben,  was die Mächtigen  verbocken. In den von der Welt nicht bemerkten Schicksalen und Tragödien der Sozialhilfeempfänger, Ausgestoßenen und Säufern wirken die Wehen der großen unbarmherzigen Politik schmerzhaft  nach.
Schon bitter, dass Loach der Stoff für seine oft warmherzigen und  trotzt ernsthafter Thematik immer lebensbejahenden  Filme, deren Rollen wegen der Authentizität größtenteils mit Laiendarstellern besetzt sind,  auch nach einem halben Jahrhundert  nicht ausgeht. Im Gegenteil: Mittlerweile klafft die Schere zwischen Reich und Arm immer mehr auseinander. Das Vereinigte Königreich hat es besonders hart getroffen. 2,685 Millionen Menschen waren Ende 2011 in United Kingdom  ohne Job. Sozialleistungen aber werden gestrichen. Weswegen sich viele Anti-Helden bei Loach  an der Grenze zur Illegalität bewegen.  Der junge Robbie (Paul Brannigan) hat sie längst überschritten. In Glasgow steht er wegen Körperverletzung vor Gericht. Einem Jungen hat er das Auge ausgeschlagen. Doch der Richter waltet Gnade vor Recht. Er verdonnert den hitzigen Burschen zu gemeinnütziger Arbeit. Der Umstand, dass seine Freundin ein Kind von ihm bekommt und der verständnisvolle Bewährungshelfer Harry ihm gut zuredet, lassen den jungen Mann umdenken. Aus Saulus wird Paulus. Er will seine Leben auf die Reihe bekommen. Verantwortung übernehmen. Ein Job muss her. Nur wie und wo?
Als Harry mit Robbie und seinen anderen jungen  Schützlingen eine Destillerie besucht, wo der womöglich teuerste Whiskey  der Welt für eine Million Pfund versteigert werden soll, kommt Robbie eine Idee.  Er will heimlich etwas von dem edlen Tropfen abzapfen und durch billigen Alkohol ersetzen. Mit seiner Loser-Clique, dem Säufer Albert, der Kleptomanin Mo und dem Kleinkriminellen Rhino, heckt er einen tollkühnen Plan aus.  Getarnt in Schottenröcken,  gibt sich das Quartett Infernale  als Vorstand eines Whiskey-Fanclubs aus und mischt sich unter die Bieter, um Ort und Gegebenheiten zu sondieren. Auch ein Hehler, der ihnen das teure Gesöff abkaufen soll, ist schnell gefunden.
 Ab jetzt wechselt der Film  die Tonart: Aus einen rauen Sozialdrama ist eine putzmuntere, spleenige  Ganovenkomödie geworden,  in der aber niemand zu Schaden kommt. „Oceans 11“  lässt von fern grüßen, wen Loach auch seinem ungekünstelten, realistischen Stil treu bleibt: schnörkellose  Aufnahmen, keine schnellen Schnitte oder Verfremdungen.   
Heiligen die Umstände nun die Mittel? Kann das Loach’s Botschaft sein?  Eine Antwort liefert der Filmtitel. Wie die Clique in der Destillerie erfährt, verdunsten etwa zwei Prozent bei der Lagerung des Whiskeys. Dieser Anteil wird  poetisch „Angels‘ s Share“ genannt, der „Anteil der Engel“.  Ein bisschen Schwund, den niemand vermisst. Wohl auch nicht die Reichen, wenn sie einen Teil ihres Vermögens spenden würden. Oder? Einen Seitenhieb kann sie der Regisseur nicht verkneifen:  Der reiche, selbstgefällige Schnösel, der den Whiskey für ein Vermögen ersteigert hat, merkt bei der Trinkprobe überhaupt nicht, dass im Fass nur noch Fusel ist.  
Für Robbie und seine kleine Familie ist das Geld aus dem Coup jedenfalls das Startkapital, um aus ihrem bisherigen Umfeld auszubrechen. Zu den Klängen des Popsongs „I would walk 500 Miles“ von den  „Proclaimers“ fahren die drei  in einem gebrauchten VW-Bus in ihr neues, vielleicht besseres Leben. Für diesen Moment hängt der Himmel voller Geigen. Auf seine alten Tage scheint aus Loach noch ein richtiger Romantiker geworden zu sein.
René Erdbrügger

Bewertung: Sehenswert


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen