Samstag, 23. Februar 2013

Aufstand der Elenden

Brillant inszenierte Verfilmung des Musicals  „Les Misérables“   / Schauspieler singen live   50 Songs /  Nominiert für acht Oscars

Eine  Trikolore  treibt auf dem Meer.   Dann  taucht die Kamera ins Wasser,  durchbricht die Oberfläche  und gibt  den Blick frei auf   angekettete Strafgefangene  im vom Sturm aufgewühlten Wasser, das ihnen nur so um ihre  Körper peitscht. Mit vereinten Kräften ziehen sie an einem Tau, um ein riesiges Schiff ins Trockendock  zu bringen, während sie gebeugt im Chor   und im Takt zu ihrer Arbeit  singen: „Look down“. Über ihnen auf einer Mauer thront  der unbarmherzige Inspektor Javert (Russell Crowe), der   Jean Valjean (Hugh Jackman), den  Gefangenen 24601,  besonders  im Auge hat. 
Von der Feindschaft dieser beiden Männer im nachrevolutionären Frankreich des 19.Jahrhunderts, die  sich im Laufe der Jahre immer wieder begegnen und bekriegen werden, bis hin zu den Barrikadenkämpfen  der Studenten  handelt unter anderem Victor Hugos  Sozialroman „Die Elenden“ (1862).  Die Theatermusicalversion    „Les Misérables“  der Franzosen Claude-Michel Schönberg und Alain Boublil, die 1985 in London Premiere feierte, läuft immer noch mit großem Erfolg jeden Abend im West End.
Aus diesem  Schatten    tritt  die  Verfilmung   des britischen Regisseurs  Tom Hooper („The King’s Speech“),  die für acht Oscars nominiert   wurde und schon drei Golden Globes einheimste,  mit Glanz und Gloria heraus: Sie ist aus dem  immer seltener gewordenen Stoff,  der  sie  zu einer  der besten Musicalverfilmungen aller Zeiten macht. Fast drei Stunden lang dauert die Kino-Adaption,  die beim Zuschauer  hemmungslos auf der Klaviatur der Gefühle spielt,  aber – wenn man sich   bedingungslos darauf  einlässt  – eine kathartische Wirkung hat. Das  erinnert an die seelenreinigende Kraft, die von  solchen   Hollywood-Melodramen  wie „Ist das Leben  nicht schön“, „Vom Winde verweht“ und „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ ausgeht.
Stilistisch    hingegen sprengt  „Les Misérables“ den Rahmen:   Mit  immer neuen, opulent ausgestatteten  Settings, schnellen Schnitten und  rasanten  Kamerafahrten sowie  Close-Ups von den Figuren wird  die  für Musicals  typische Bühnenstatik gesprengt, um  einer cinematografischen Ästhetik und Wirkung Rechnung zu tragen. 
Liebe, Hass, Vergeltung    und Erlösung     –  von der Thematik her zeichnet „Les Misérables“  das aus, was große Filmstoffe haben müssen, wenn sie das Herz des Zuschauers  berühren wollen.  Dazu gibt es dramatische  Wendungen,  wie sie nur in den großen epischen Romanen des 19. Jahrhunderts zu finden sind:  Als  Jean Valjean auf Bewährung frei gelassen wird,  macht er sich auf und davon. Er beklaut einen Prieser, der ihm vergibt und die Beute überlässt.  Davon  kauft sich Valjean   eine Fabrik, in  der  Fantine (Anne Hathaway) schuftet. Als sie den Avancen ihres Vorarbeiters nicht nachgibt, landet sie auf der Straße– gefeuert von Valjean in Unkenntnis der Tatsachen.    Für Fantine beginnt ein  Leidensweg: Damit sie  ihre kleine Tochter  ernähren kann , verkauft die junge Frau ihr Haar, ihre Zähne, ihren Körper.    Wenn  die abgemagerte Hathaway mit steinerweichender, tränenerstickter  und zuletzt nur noch hauchender  Stimme „Life has killed the dream I dreamed“ singt,    rührt einen das bis ins Mark.   Es ist der Gesang der  geschundenen Seele, der  Valjean dazu bewegt,  der sterbende Fantine zu versprechen,  sich um ihre Tochter Cosette zu kümmern.
Um diese  mit Schmerz,  Elend und auch Wut  getränkte Atmosphäre zu  erzeugen, hat Hooper seine  Hauptdarsteller live vor der Kamera singen lassen. 50Songs. Der   seichte, wenig facettenreiche  Gesang, wie man ihn  von vielen  Musicals kennt,   ist hier nicht zu hören:   Hugh Jackman überrascht mit einem  rauen Tenor, Russell Crowe brummt  den  Bariton,  Helena Bonham Carter sowie  Sacha Baron Cohen als  fieses Wirtspaar Thénardiers   bereichern die  Inszenierung  mit exaltierten Duetten und    Amanda Seyfried als   erwachsene Cosette  betört mit  ihrem Sopran. Was kümmert da der ein oder andere schiefe Ton? Ihre  Schicksale  lassen einen am Ende atemlos und  erschöpft  zurück – so als hätte man selbst mit auf der Bühne gestanden.
René Erdbrügger

Bewertung: Herausragend
Erstveröffentlichung: Pinneberger Tageblatt/Flensburger Tageblatt/s:hz



Sonntag, 3. Februar 2013

„Metropolis“: Die Mutter aller Zukunfts-Filme


Fritz Langs Stummfilm-Klassiker von 1927 begeistert immer noch

Ikonografie des Science-Fiction-Genres:
 Die Schöpfung der Mensch-Maschine Maria.
 Warner Bros.
Die  sich auf und ab bewegenden schweren Kolben,  das Drehen der Zahnräder und die wie Roboter marschierenden Arbeitermassen auf dem Weg zu  ihrer Zehn-Stunden-Schicht – obwohl „Metropolis“ ein Stummfilm ist, hat man durch die rhythmisch aneinandergereihten Bilder vom ersten Moment an das Gefühl, die Geräuschkulisse  auch zu hören.
„Metropolis“  ist die Mutter aller Zukunftsfilme,  die kinematografische  Ursuppe, aus der  später   „Blade Runner“  „Brazil“  und „Dark City“ hervorgingen, und mit der Bands wie „Queen“ ihre Videos würzten. Das Meisterwerk, das die Unesco zum Weltkulturerbe erklärte  und 2011 in einer restaurierten, fast kompletten  Fassung  84 Jahre nach der Uraufführung 1927 in den Kinos wieder zu sehen war, begeistert auch heute noch.
Auch wer „Metropolis“ zum ersten Mal schaut, gerät ins  Staunen, egal, ob er zuvor schon Tausende anderer Filme  gesehen hat. Weil er entdeckt,  wie sehr die Drehbuchautoren und Designer dieses Werk in den nachfolgenden Jahrzehnten kopiert und  geplündert haben.  Es sind Gänsehaut erzeugende Bilder. Zwei Beispiele, die die Science-Fiction-Ikonografie für alle Zeiten prägten:  Da ist die vom legendären Filmarchitekten Otto Hunte entworfene, weit in den Himmel ragende Wolkenkratzerstadt Metropolis mit ihren auf Schnellstraßen fahrenden Autos, über die Flugzeuge dahingleiten,  die  Blaupause  aller fiktiven Mega-Citys , und da ist der  Schöpfungsakt der Mensch-Maschine  Maria in einer von pulsierenden Leuchtringen umgebenden Röhre.
Nein, über die imaginäre Kraft und Ästhetik   in „Metropolis“  gibt es keine zwei Meinungen, wohl aber über die Geschichte selbst: Langs damaliger Frau und Drehbuchautorin, Thea  von Harbou, werfen viele Kritiker Sozialkitsch vor:   Hoch oben über der Stadt thront Joh Fredersen (Alfred Abel), der die wirtschaftliche und politische Macht in seinen Händen hält. Unter der Stadt verrichten Menschen  Sklavendienste. Die Arbeiter-Anführerin Maria (Brigitte Helm) will rebellieren.  Am Ende löst sich jedoch alles in Wohlgefallen auf. Warum auch nicht? Hollywood-Filme funktionieren heute immer noch nach diesem Muster. 
Für das damalige Publikum war das Gesamtpaket „too much“.  Der sechs Millionen Reichsmark teure Film floppte an der Kinokasse. Die 210 Minuten lange Fassung wurde gekürzt, über ein Viertel des Originalmaterials ging verloren. Das Filmunternehmen UFA stand am Rand der Pleite. Lang war damit der erste "verbrannte" Regisseur der Filmgeschichte.

Jahrzehnte später dann die  Sensation: 2008 wurde in Bueños Aires  eine 16 Millimeter-Kopie mit  zahlreichen verlorenen Szenen gefunden, die als Grundlage für die Neufassung –  den Director’s Cut von „Metropolis“  –  diente.

René Erdbrügger