Dienstag, 29. Januar 2013

Alles wieder auf Anfang


 Junger Cutter aus Pinneberg dreht Abschlussfilm „Rewind“ / Quickborner  Schauspielerin   gibt ihr Filmdebüt / Premiere im Beluga-Kino 


Die Filmcrew bei der Premiere im Quickborner Beluga-Kino.
Foto: Erdbrügger
Szene aus "Rewind".
Noch eine Szene aus "Rewind".
Quickborn/Pinneberg/Hamburg  Ein junger Mann liegt blutend auf dem Boden. Der  Killer, der auf ihn herabblickt,  nimmt noch einen letzten Zug von seiner Zigarette, schnippt sie weg und  zieht seine Pistole. Er schießt und die Kugel fliegt in Zeitlupe auf das Opfer zu. Plötzlich hört man eine Frauenstimme aus dem Off: „Wenn man sich etwas  stark genug wünscht, dann geht es in Erfüllung.“ Wie durch Zauberhand  stoppen Geschoss und Film – und alles spult zurück.
   Zurückspulen heißt auf Englisch   „Rewind“  –  und das ist auch der Titel  des achtminütigen Films des Pinnebergers Ruben Spitz (24), mit dem er seine Ausbildung zum Film-und Videoeditor (Cutter) in Hamburg abgeschlossen hat. Der Kurzfilm –  eine Mischung aus  Thriller- und Mystery-Elementen –  hatte jetzt Premiere im Quickborner Beluga-Kino. Bei der Aufführung waren Dreh-Team und die beiden Hauptdarsteller,  die  aus dem Kreis Pinneberg kommen, im Kinosaal.
„Es ist eine Sache, seinen Film auf einem Monitor zu schauen, aber eine andere, ihn auf der großen Leinwand zu sehen. Das ist, als würde man ihn wieder zum ersten Mal sehen“, sagt Ruben Spitz, der seinen ersten Film im Alter von acht Jahren mit einer Videokamera drehte.
Drei Monate lang hatte der junge Cutter  die Abschlussarbeit „Rewind“ vorbereitet: ein Drehbuch geschrieben, ein Storyboard gezeichnet, eine Shotlist erstellt, das Equipment organisiert und  nach Schauspielern und einem Filmteam Ausschau gehalten. „Die meisten Leute habe ich direkt in meiner Berufsschulklasse gefunden“, sagt er.  Beim Hauptdarsteller griff er auf Patrick Finck (23) zurück.  Mit dem Holmer, der gerade seine Ausbildung als Medienkaufmann zum  RTL Nord abgeschlossen hat, hat Ruben bereits zwei Kurzfilme gedreht – einen davon auf dem  Jugendpressefrühling in  Barmstedt. „Für mich war der Dreh eine spannende Herausforderung. Es  hat großen Spaß gemacht, einmal vor der Kamera Erfahrungen zu sammeln und mit einem professionellen Team zu arbeiten“, sagt Patrick  Finck.
Einzige professionelle Schauspielerin im Team: die Quickbornerin Katharina Wermke (22). Sie steht kurz vor dem Abschluss an der Freien Schauspielschule Hamburg und hat dort  den Beruf  in all seinen Facetten kennen gelernt: Tanz und  Gesang gehören auch dazu. „Ich war positiv überrascht, dass ein junger Filmemacher so einen  professionellen Film gemacht hat –  von der Regie über  die Kamera bis  zum Schnitt“, lobt   Katharina Wermke.
„Katharina hat Patrick Finck bei den Proben wichtige Tipps gegeben“, erinnert sich Ruben Spitz. „Auch wenn die anderen Laien waren, haben sie mich alle mit ihrer Leistung überzeugt. Mir ist Authentizität und Realismus wichtiger als einstudierte Mimik und Gesten“, sagt der Pinneberger.  Bei der Technik konnte er auf die angehenden Profis zurückgreifen: Dennis Schröder (Kamera) und Tim Corleis (Ton und Glidecam) machen ihre Ausbildung beim NDR.
Wie kam er auf die Story? „Ich hatte immer schon das Bild eines Filmheldens vor Augen, der auf dem Boden liegt und von einem Killer bedroht wird. Niemand weiß in diesem Moment, ob er überleben  oder sterben wird“, sagt Ruben Spitz.
Doch mit der Idee ist es allein nicht getan. Einen Tag lang  wurde in Hamburg gedreht. An verschiedenen Locations wie den Landungsbrücken, Bahnhof Dammtor, in Mümmelmannsberg und auf dem Gelände von Studio Hamburg. „Es war schwierig, an die Drehorte zu gelangen, weil wir nur wenig Zeit hatten und uns nur zwei Autos zur Verfügung standen. Wir sind teilweise an unsere Grenzen gestoßen.“
Auch vor Green-Screen, einem grünen  Stoff-Hintergrund für Fotos und Videos, wurde gedreht. „Es wäre zu gefährlich für die Hauptdarsteller gewesen, eine Dialogszene im fahrenden Auto zu drehen. Die Fahrtstrecke wurde per Computer eingefügt“, erläutert Ruben Spitz.
Bei der Bewertung des Films ging es in erster Linie um den Schnitt: Daran saß  der Jung-Cutter zehneinhalb  Stunden lang.  „Während ich drehe,  habe ich den Schnitt schon vor Augen. Das Schwierigste ist, einen Fluss zu erzeugen, so dass die Szenen zusammenpassen, keine Anschlussfehler entstehen und der Zuschauer nicht bemerkt, dass die Szenen zusammengeschnitten sind.“
Außer  einem Zeitplan für sein Projekt verlangte die Schule auch eine Kalkulation: „Im Grunde war  es ein No-Budget-Projekt. Ich habe von meiner Ausbildungsfirma, der Fernsehecke in Hamburg, 500 Euro zur Verfügung gestellt bekommen. Das ganze Geld ging für die Mietgebühr der Profi-Kamera, der Glidecam- und Lichtausrüstung drauf. Das Ton-Equipment stellte die Schule. Meinen Darstellern konnte ich kein Geld zahlen.“ Dafür bekamen sie nach der Vorführung eine Blu-ray mit dem Film geschenkt. 
Nun will Ruben Spitz erst mal als Cutter arbeiten. Sein großer Traum: „Ich werde mich an Filmhochschulen bewerben, um Regie zu studieren. Am liebsten an der Hamburg Media School.“  „Rewind“ will er auf Filmfestivals einreichen.
Auf You-Tube ist er jetzt schon zu sehen:


René Erdbrügger
(erschienen im Quickborner Tageblatt am 29. Januar 2013)

Freitag, 25. Januar 2013

Zeitreise in die „Roaring Twenties“

„Midnight in Paris“ ist Woody Allens  leichteste  Komödie seit langem


„Ein Urlaub ohne Arbeit ist ein Urlaub ohne Vergnügen“, lautet Woody Allens  Credo. Nur so ist es nachvollziehbar, dass der schon zu Lebzeiten legendäre New Yorker Regisseur („Manhattan“, „Match Point“, „Vicky Cristina Barcelona“) seinen 42. Kinofilm abgeliefert hat. Beeindruckend: Jedes Jahr gibt es einen bis zwei neue Allens. Der Qualität seiner Werke tut das überhaupt keinen Abbruch. Selbst ein mittelmäßiger Film von ihm  ist noch besser als die Ergüsse von 97 Prozent seiner Kollegen. Für die Idee zu „Midnight in Paris”, in dem die einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts wie Pablo Picasso, Ernest Hemingway, Luis Buñuel und  Man Ray wieder auferstehen, müssen  die Musen Allen geradezu geknutscht haben. Es ist seine pfiffigste Komödie seit langem, die einem beim Zuschauen ein breites  Grinsen auf die Lippen zaubert –  eine formidable Glückspille gegen  Verstimmungen.
Welcher Ort für diese poetische Fantasie d’amour könnte  besser geeignet sein als Paris? In die Stadt der Liebe  begleitet der amerikanische Drehbuchautor Gil (Owen Wilson)  seine oberflächliche, zickige  Verlobte Inez (Rachel Mc  Adams), Tochter aus reichem Haus,  und deren konservative Eltern, die ihren Schwiegersohn in spe nicht ausstehen können. „Ein Kommunist“, krittelt Inez’ Vater John (Kurt Fuller). Gil kontert mit Spitzen gegen die Tea-Party-Bewegung.
Gil ist selbstverständlich ein typischer Woody-Allen-Charakter, den der mittlerweile 75-jährige Stadtneurotiker vor Jahren noch selbst gespielt hätte: naiv, träumerisch, ein wenig linkisch, aber sympathisch und eloquent, wenn es darum geht, über seine Ängste und Wünsche zu sprechen.

Obwohl in Hollywood erfolgreich, möchte Gil lieber ein berühmter Schriftsteller sein. Anders als Allen, haben ihn die Musen bisher nicht geküsst: Noch immer doktert er an seinem ersten Roman herum. Jetzt beflügelt die Magie der französischen Metropole  Gil in sein künstlerisches Schaffen. Davon will Inez nichts wissen, die ihren Verlobten für einen Träumer hält. Während sie eines Abends mit ihren Freunden tanzen geht, macht sich Gil allein auf den Weg, um Paris auf sich wirken zu lassen. Als er sich müde auf einer Treppe niederlässt und es 12 Uhr Mitternacht schlägt, nähert sich plötzlich ein Oldtimer. Die ausgelassenen Insassen fordern  Gil auf, einzusteigen und der Wagen bringt sie zu einer Bar, in der  Scott (Tom Hiddleston) und Zelda Fitzgerald (Alison Pil) feiern, während Cole Porter am Klavier sitzt. Da dämmert es Gil, dass er sich im  Paris der 20er Jahre, in den „Roaring Twenties“ befindet.
Allen erklärt nicht, durch welchen Zauber das geschehen ist. Auch dass der Spuk morgens vorbei ist und am Abend die Zeitreise von Neuem beginnt, ist so hinzunehmen –  Gils Frau glaubt ihm kein Wort. Dafür schlagen Allens Einfälle Kapriolen, denn die legendären Künstler der „Lost Generation“ lassen den unbekannten Drehbuchautoren nicht einfach links liegen, sondern schenken ihm ihre volle Aufmerksamkeit.
Fitzgerald macht Gil mit Gertrude Stein (großartig: Kathy Bates) bekannt, die sich bereit erklärt, seinen Roman zu lesen und ihm wichtige Tipps gibt. Er trifft auf Hemingway (bärbeißig: Corey Stoll), der ganz der Macho ist, wie er in zahlreichen  Essays beschrieben wird, und auf einen eitlen Dali (genial: Adrien Brody). Dann verliebt sich Gil in  Picassos Muse Adriana (wie immer zum Niederknien: Marion Cotillard) und der Himmel hängt voller Geigen.
Im Spannungsfeld zwischen Fakt und Fiktion spielt Allen bei der Charakterisierung der berühmten Künstleridole mit deren Mythen, dass es das reinste Vergnügen ist, und er nimmt sich  manche Freiheit heraus: In einer Szene schlägt Gil dem jungen Buñuel, dem späteren Meisterregisseur des Surrealen („Der andalusische Hund“), eine Idee für einen Film vor. Doch Buñuel ist  schwer von Begriff.
Man muss die Biografien der Künstler nicht kennen, um an „Midnight in Paris“ seine  Freude zu haben. Allen und  Kameramann Darius Khondji („Sieben“) lassen die europäische Metropole in einem Glanz erstrahlen, selbst wenn es in der Stadt  regnet.  Und ganz nebenbei verhilft Allen Carla Bruni-Sarkozy, Frankreichs First Lady, zu einem Gastauftritt.

René Erdbrügger

Herausragend


Teenager auf spannender Alienjagd


J.J. Abrams soll den nächsten "Star Wars" drehen. Sicherlich eine gute Wahl. Hier meine Kritik zu „Super 8“ - Abrams'  liebenswerte Hommage an die frühen Filme von Steven Spielberg


Mit „Super 8“ nimmt uns J.J. Abrams  (45) mit auf eine Reise in das Jahr 1979, als das Kino noch abendfüllende Geschichten über Jugendliche erzählte, Werte vermittelte und Spezial-Effekte  der Handlung und den Figuren untergeordnet waren.  Das Abenteuer um eine Gruppe  von Kids in Ohio, die einen Zombie-Streifen  drehen will und  plötzlich selbst in Gefahr gerät, ist eine stimmige Reminiszenz  an die frühen Filme von Steven Spielberg (64). Aber auch die 80er-Jahre- Klassiker „Goonies“ von Joe Dante und „Stand by me“ von Rob Reiner standen hier Pate.
 Spielberg,  von Abrams’  Idee wohl gebauchpinselt, produzierte die Hommage. Ein guter Entschluss: Ganz sicher ist „Super 8“  der schönste  Film dieses Sommers.  Mit  Herz,  Seele und einem großen Schuss Wehmut.  Ja,  wüsste man es nicht besser und wären die wenigen Effekt-Szenen nicht  so perfekt, was nur mit heutiger CGI-Technik möglich ist, so läge die Vermutung nahe, es mit einem neu entdeckten Movie aus den 80ern  zu tun zu haben – selbst die für den jungen Spielberg typischen Lichtspielereien fehlen hier nicht.
Doch Abrams, der auch das Drehbuch geschrieben hat, ist kein bloßer Epigone, er tut nur so.  Der Strippenzieher hinter den Fernsehserien „Alias“,  „Lost“ und „Fringe“ sowie der Low-Budget-Produktion „Cloverfield“ und Regisseur des „Star Trek“-Prequels hat eine eigene Handschrift, die gut erkennbar ist. So versteht es der Meister der Mystery, Spannung über einen längeren Zeitpunkt aufzubauen, ohne das Monster  zu zeigen wie in „Cloverfield“.
Selbstverständlich macht  in „Super 8“ eine Kreatur  aus dem All die Gegend unsicher.  Dass unter der Patina  schon mal das  moderne, aufs Tempo drückende Actionkino mit all seinen Raffinessen aufblitzt, dürfte Puristen vielleicht verstimmen. Gut für Abrams, den bekennenden Spielberg-Fan. Er ist somit  vor dem Vorwurf des reinen Abkupferns sicher.
Nach einer kurzen Einführung  der Hauptfiguren gibt es Rock’n’Roll, sprich: Eine logistisch ausgeklügelte, fast zwei Minuten lange Action-Sequenz. Nachts machen sich Joe  (Joel Courtney), Charles (Riley Griffiths), Carey (Ryan Lee), Preston (Zach Mills), Martin (Gabriel Basso) und Alice (Elle Fanning) heimlich auf den Weg – ihre  Eltern dürfen nichts davon wissen – zu einem stillgelegten Bahnhof, wo sie ein paar Szenen drehen wollen.  Plötzlich nähert sich  ein Güterzug.
Während  Charles, der junge Regisseur, „Action schreit“, fährt ein Pickup auf die Gleise, der Eisenbahn entgegen.  Die Folge ist, dass Lokomotive und Waggons entgleisen. Es gibt eine gewaltige Explosion, die Jugendlichen flüchten in alle Richtungen, Trümmerteile fliegen ihnen um die Ohren. Längst ist die Handkamera  auf den Boden gefallen – aber sie filmt weiter und nimmt auf, wie sich etwas aus einem der lädierten Waggons befreit und entkommt. 
Wie Spielberg in „E.T.“, erzählt  Abrams die nun folgenden Geschehnisse (Das Militär rückt an, Hunde flüchten aus der Stadt, Mikrowellengeräte verschwinden, Einwohner werden vermisst)  aus der Perspektive der Jugendlichen. Die  Sorgen seiner jungen Helden verliert er dabei nicht aus den Augen: Joe, dessen Mutter gestorben ist, hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater (Kyle Chandler), einem Polizisten. Alice` Daddy Louis (Ron Eldard), auf den ersten Blick ein Versager,  will nicht, dass sie mit Joe rumhängt, und der pummelige Charles, heimlich in Alice verliebt, ist eifersüchtig auf Joe – der ganz normale Adoleszenz-Wahnsinn.  Die cineastische Zeitreise führt uns aber nicht nur die Schwierigkeiten des  Erwachsenwerdens  vor Augen, sondern ganz nebenbei auch den Reiz des    Filmemachens und die Möglichkeiten, Schmerz und Kummer durch die  Kunst zu kompensieren.
Rührend sind die Momente, in denen das Team mit  großer Leidenschaft dreht und  die Welt um sich herum vergisst–   wie einst Spielberg, der als Teenager selbst zur Schmalfilmkamera griff, von einer Karriere in Hollywood träumte  und später  unsere  Sehgewohnheiten veränderte sollte. Deshalb ist  „Super 8“  ein Geschenk für alle, die mit seinen Filmen in den späten 70er und den 80er Jahren aufgewachsen sind,  und für die heutigen Twens, die  vielleicht endlich die Begeisterung ihrer Eltern für  „Der weiße Hai“, „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ und „E.T.“  (ein klein wenig) nachvollziehen können.   

René Erdbrügger

Herausragend


Donnerstag, 24. Januar 2013

Reise ins Herz der Finsternis


Jennifer Lawrence ist gut im Geschäft. Mit "Die Tribute von Panem" und "Silver Linings" hat sie bewiesen, dass sie die unterschiedlichsten Frauenfiguren überzeugend verkörpern kann. Mit "Winter's Bone", einer  düsteren Milieustudie, machte sie auf sich aufmerksam.

 Als wäre die Zeit stehen geblieben: Heruntergekommene Holzhäuser,  verrostete Pick-Ups und schäbige Kneipen, in denen nur  Country-Musik  dudelt. Männer ohne Jobs in dreckigen Unterhemden   und  kleine Kinder, die verwahrlost durch  die Gegend strolchen.  Aber der Independent-Film  „Winter’s Bone“  spielt nicht in den 30er Jahren der Großen Depression, sondern im Hier und Jetzt, in den Backwoods. Dort wohnen  die Hinterwäldler – der weiße Abschaum –  in einer Parallelwelt, in der Verrohung, Inzucht, Drogenhandel und  Mord an der Tagesordnung sind und eigene Gesetze herrschen.  Sind das alles nur Kino-Klischees? Bösartige Mythen?
Vor dem Hintergrund der eisigen und kargen Winterlandschaft der Ozarks/Missouri  erzählt Debra Granik in ihrem zweiten Werk ein Drama  um eine Suche mit archaischer Wucht. Im Mittelpunkt der Geschichte steht eine junge, mutige Heldin, die andere Sorgen hat als Mädchen ihres Alters.  Die 17-jährige Ree Dolly (herausragend: Jennifer Lawrence) muss sich um ihre zwei jüngeren Geschwister und ihre psychisch kranke Mutter  kümmern. Als  ihr Vater, der die Droge Crystal Meth herstellt und damit auch  dealt, nicht zu  einem Gerichtstermin erscheint,  steht die Polizei vor der Tür: Sollte der Vater nicht mehr auftauchen,  egal ob tot oder lebendig, wird die Hütte verkauft, denn  das Familienoberhaupt hat sie für seine Kaution verpfändet. Das will Ree verhindern, und so macht sie sich auf die Suche nach ihrem Vater. Ihr bleiben nur sieben Tage   Zeit.
Was dann folgt, ist eine Reise in Herz der Finsternis. Von ihren Verwandten und Nachbarn kann sie keine Hilfe erwarten. Blanker Hass  schlägt ihr entgegen.  Jeder des Dolly-Clans scheint  in kriminelle Machenschaften verwickelt zu sein, weil es in dieser Gegend so gut wie keine anderen Verdienstmöglichkeiten gibt. Rees Onkel Teardrop (John Hawkes) bedrängt sie deshalb, die Nachforschungen einzustellen, ansonsten könnte er für ihr Leben nicht mehr garantieren.  In einer Szene fährt er mit seiner Nichte, die nicht locker lassen will,  in den tiefen Wald, um ihr angeblich den Leichnam des Vaters zu zeigen. Aus solchen Momenten des Ungewissen und Unheimlichen heraus baut die Regisseurin Spannung auf.
Wie authentisch das ganze Szenario ist, lässt sich nur spekulieren. Was für  die Wahrhaftigkeit spricht:  Autor Daniel Woodrell, auf dessen Roman der Film basiert, wuchs in den Ozarks auf und  nahm  Drogen. Seine Bücher beschreibt er als country-noir – eine Mischung aus Folklore, Milieustudie und Krimi. Woodrell gilt als Stimme des White Trash, die in Hollywood dann doch überhört wurde. Obwohl für vier Oscars nominiert (unter anderem für Bester Film, Beste Hauptdarstellerin), ging „Winter‘s Bone“ bei der Verleihung leer aus. Der Blick auf das Lumpenproletariat von Amerika war wohl zu verstörend und beängstigend. 

René Erdbrügger

Sehenswert




Amazonen im Traumland


„Sucker Punch“ ist wie der auf der großen Leinwand wahr gewordene feuchte (Alb-)Traum eines pubertierenden Jungen, der außer Mädchen nur Comics und Videospiele  im Kopf hat. In diesem Fall heißt er Zack Snyder.  Von der Vorliebe des Regisseurs für visuell durchgestylte Welten konnte man sich schon in „300“ und „Watchmen“ überzeugen.
Jetzt setzt er noch eins drauf: Sein „Erguss“  über ein blondes Mädchen namens Babydoll (Emily Browning), das  von ihrem perversen Vater in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird und mit ihrer Vorstellungskraft  in Traumwelten flüchtet, ist zwar reinstes Oberflächenkino, das die  dünne Story niederwalzt, aber besticht  durch  eine ausufernde Fantasie, einen trunken machenden Bilderrausch und einen hämmernden Soundtrack – mit Songs von Björk bis „Queen“.
Vier Leidensgenossinnen – Sweet Pea, Rocket, Blondie und Amber –, die im Reich der Fantasie zu Sexy-Amazonen (kurze Röcke, Netzstrümpfe)   werden, kämpfen, bis an die Zähne bewaffnet,  an Babydolls  Seite. Fünf Aufgaben müssen sie –  so verspricht es ihnen der Weise (Scott Glenn) – erfüllen, um aus der Anstalt zu fliehen. 
Ihre Gegner in den Traumwelten sind Riesen-Samurai-Krieger, Zombie-Soldaten, feuerspeiende Drachen und  Cyborgs, die die Welten wechseln von einem Japan des  15. Jahrhunderts über ein Paralleluniversum, in dem der Erste Weltkrieg noch nicht beendet ist, bis hin  zu einer futuristischen Welt. Nicht  zu vergessen das  Bordell, in dem die Mädels leicht bekleidet vor schmierigen Kerlen tanzen müssen.
Weil „Sucker Punch“ auch auf mehreren Traumebenen spielt, liegt der Vergleich zu dem SF-Thriller „Inception“ nahe. An dessen dramaturgische Raffinesse kommt Synder nicht heran.   Aber trotz der Verrisse in den USA:  Die  Kampf- und Actionszenen, die sich an der Ästhetik von Videospielen orientieren,     setzen   neue Maßstäbe.

René Erdbrügger

Herausragend


Mittwoch, 23. Januar 2013

Astronaut am Rande des Wahnsinns


Duncan Jones’ sensationelles Debüt „Moon“ / Kammerspiel über die Einsamkeit

Duncan Jones ist der Sohn von David Bowie. Statt sich für eine Karriere als Musiker zu entscheiden, gehört seine Leidenschaft dem Film. Doch der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: Wie sein Vater hat auch Jones eine Vorliebe für Science-Fiction-Stoffe. Bowies Song „Space Oddity“,  in dem es heißt „Though I'm past one hundred thousand miles, I'm feeling very still/  And I think my spaceship knows which way to go“,  dürfte als Inspiration für sein  Debüt gedient haben.
Auch in „Moon“, der bereits 18 Preise und 15 Nominierungen einheimste,  geht es um Einsamkeit und Isolation. Eine Raumstation auf dem Mond. Dort überwacht der Astronaut Bell (Sam Rockwell mit einer bravourösen One-Man-Show) seit drei Jahren den Abbau von Helium, das auf der Erde zur Energiegewinnung genutzt wird. Sein einziger Gesprächspartner ist der Computer Gerty, im Original von Kevin Spacey gesprochen. Genau wie HAL aus Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“, der als Vorlage herangezogen wurde,  scheint die Maschine mehr zu wissen, als sie vorgibt.
Es sind nur noch wenige Wochen, bis Bell wieder zur Erde zu Frau und Tochter zurückkehrt. Plötzlich erkrankt er und verursacht einen Unfall bei Außenarbeiten. Als er auf der Krankenstation erwacht, traut er seinen Augen nicht: Vor ihm steht ein Mann, der genauso aussieht wie er.
Mit einer traumwandlerischen Sicherheit für Dramaturgie und Spannung  hat Jones dieses subtile Kammerspiel, in dem ein Mann  an den Rand des Wahnsinns getrieben wird, inszeniert. Während das Abtasten zwischen den beiden scheinbar identischen  Astronauten zunächst etwas Chaplineskes  hat, wird die Situation später kafkaesk. Immer mehr gerät Bells Welt ins Wanken. Als der Astronaut herausfindet, was es mit dem Doppelgänger auf sich hat,  wird seine  Existenz in Frage gestellt.
Mit seiner pessimistisch-philosophischen Haltung gegenüber dem  zügellosen Fortschrittsdenken    steht  „Moon“ in der Tradition von „Lautlos im Weltraum“ und „2001“. Aber es ist kein Abklatsch oder eine wahllose Aneinanderreihung von Versatzstücken geworden, sondern eine Hommage, die in ihrer Originalität für sich bestehen kann.   Es müssen ja nicht immer Weltraumschlachten gegen Klingonen sein. 

René Erdbrügger

Herausragend


Internat der gehorsamen Klone


Leinwandadaption des  Romans „Alles, was wir geben mussten“ von Kazuo Ishiguro  /  Melancholische Dreiecksgeschichte

Im ersten  Moment glaubt man, in dem neuen  Harry-Potter-Film gelandet zu sein. Ein abgeschottetes Internat irgendwo im idyllischen England. Schüler, gekleidet im britischen Landhaus-Stil, denen die strengen Lehrer eintrichtern, etwas Besonderes zu sein.  Was sie tatsächlich auch sind – aber anders als wir vermuten, denn die Romanvorlage zu „Alles, was wir geben mussten“ stammt nicht von der Potter-Erfinderin  J.K. Rowling, sondern dem Schriftsteller Kazuo Ishiguro („Was vom Tage übrig blieb“),  der sich eine düstere Dystopie ausgedacht hat. Sie beginnt  in dem England eines Paralleluniversums Anfang der 60er Jahre, in dem, so heißt es  gleich zu Beginn,  aufgrund bahnbrechender medizinischer Erfolge die Menschen 100 Jahre alt werden, und endet Anfang der 90er Jahre. Nicht Zauberschüler, die den Bösewicht Lord Voldemort fürchten müssen,  gehen auf das besagte Internat namens Hailsham. Nein,  dort wachsen Jungen und Mädchen auf, die geklont worden sind und als Organspender dienen. Traurige Gewissheit: Sie werden ihr 30. Lebensjahr nicht erreichen.
Alex Garland,  selbst Schriftsteller und Autor des Longtime-Bestsellers „The Beach“, hält sich mit seinem Drehbuch eng an die literarische Vorlage, die sich  vom stilistischen Aufbau her dem Mainstream verweigert.  Regisseur Mark Romanek („One Hour Photo“)  wird ihr mit einer behutsamen Inszenierung, die von Empathie für die Klone und bitterer Melancholie durchzogen ist,  und mit ruhigen,  pastoralen Bildern, in die  sich zunehmend  ein harter Grauton einschleicht, gerecht. 
Dramaturgische Paukenschläge  oder überraschende Wendungen, was die Story durchaus hergeben würde, werden dafür wie in Ishiguros Buch ausgespart. Schnell ist die Katze aus dem Sack - eine Lehrerin klärt die Kinder über ihr unausweichliches Schicksal auf, um dann wie in einer ethnologischen Fallstudie zu beschreiben, wie junge Menschen unter dem Damoklesschwert des Todes ihr Leben gestalten.
Drei dieser gezüchteten Ersatzteillager  stehen im Mittelpunkt der Handlung:   Kathy (Carey Mulligan), Tom (Andrew Garfield) und Ruth (Keira Knightley). Ihre Tage sind von typischen Teenagerproblemen bestimmt: Tratsch und Klatsch, Liebe und Eifersucht.  Dabei zieht Kathy, seit ihrer Kindheit in Tom verliebt,  zunächst den Kürzeren. Später,  als die Jugendlichen –  kurz vor ihrer Bestimmung  – in schäbige Cottages ausquartiert werden, bleibt sie die Beobachterin, die sich hinter Büchern versteckt, während Tom und Ruth ein Paar sind. Dann ist es Ruth selbst, nach mehreren  Organ-Transplantationen dem  Tode geweiht, die Kathy und Tom zusammenbringt.
  Kurz schimmert Hoffnung auf, weil ein Gerücht die Runde macht, dass geklonte Paare, die sich lieben, von ihrer Bestimmung angeblich verschont bleiben. Die beiden wollen es wissen und fahren zu ihrer ehemaligen Schulleiterin (Charlotte Rampling)  – Repräsentantin  dieses unmenschlichen Staates, der nicht in Erscheinung tritt.
Muss er auch nicht: Die Stärke des Films liegt gerade darin, an der Dreiecksgeschichte  die  Tragik und Perfidität einer  Zweiklassen-Gesellschaft ohne Moral und Ethik zu knüpfen, in der das Glück der einen nur durch die determinierte Opferrolle  der anderen möglich ist. Damit wird die herzerweichende Geschichte von Kathy, Tom und Ruth, deren Naivität nicht erzürnt, sondern rührt,  zur politischen Parabel.

René Erdbrügger

Herausragend

Dienstag, 22. Januar 2013

"Inception": Im Labyrinth der Träume

"The Dark Knight Rises" war beeindruckend, doch "Inception" bleibt  Christopher Nolans Meisterwerk. Hier meine Kritik aus dem Jahr 2011.

Geburt  eines Filmklassikers:  Christopher Nolan nimmt den Zuschauer  in  „Inception“  mit auf eine fiebrige Reise ins Unterbewusstsein 

Christopher Nolan  nimmt uns in „Inception“  mit auf eine Reise in das Labyrinth der Träume  und darüber hinaus in die komplexen, vielschichtigen und tiefen  Ebenen des Unterbewusstseins.  Visionär brillant, erzählerisch vielschichtig, intellektuell immer herausfordernd, aber auch dem Actionkino verhaftet liefert der „Memento“- und „The Dark Knight“-Regisseur  ein Meisterwerk ab, in dem der  Schulterschluss zwischen Mainstream und Arthouse mühelos gelingt. Genres wie der Film-Noir, Fantasy und SF verschmelzen zu einer cineastischen Melange      –  es ist  die Geburt eines Filmklassikers.
Auch bei der Auswahl der Schauspieler hatte Nolan, den das britische Fachmagazin „Empire“  bereits den „Stanley Kubrick des neuen Millenniums“ nennt,  ein sicheres Händchen: Leonardo DiCaprio, der zur Hochform aufläuft, spielt Dom Cobb.  Er verdient  sein Geld damit, für Unternehmen in die Träume anderer Menschen einzudringen, um ihre Gedanken auszuspionieren.  Bei  dem Industriellen Saito (Ken Watanabe) schlägt das fehl. Um die Sache zu bereinigen, macht  dieser  dem Traumspion einen Vorschlag: Er soll dem Konzern-Erben Fischer (Cillian Murphy) einen Gedanken einpflanzen, der Saito zum Vorteil gereicht. Diese Art der Manipulation nennt sich „Inception“. Als Belohnung will er dafür  sorgen, dass Cobb wieder in die USA einreisen darf, wo er gesucht wird, aber seine Kinder auf ihn warten.
 In  bester „Ocean’s 11“-Manier  stellt  Cobb   die   Gruppe zusammen: Mit dabei sind  seine rechte Hand Arthur (Joseph Gordon-Levitt), Ariadne (Ellen Page), die Architektin der Träume,  Eames (Tom Hardy), der Fälscher, weil er in Träumen die Gestalt wechseln kann, und der Apotheker Yusuf (Dileep Rao), der  die Spione  und ihr Opfer mit einem Betäubungstrank in Morpheus Arme schicken soll.
Nach diesen Präliminarien und einem Crash-Kursus darüber, was Träume sind und wo die Gefahren liegen, wenn man sich in dieser imaginären Welt bewegt, beginnt die Reise ins Unterbewusstsein,  Schicht um Schicht. 
Es ist eine Exkursion mit vielen Unbekannten: In Gefahr gerät die Mission mehrmals durch  Cobbs verstorbene  Frau Mal (Marion Cotillard), die in seinem Unterbewusstsein herumspukt. Nur so viel:  „Malus/mala“ wird im Lateinischen mit  böse übersetzt. Und Fischers mentale Bodyguards, die sich   gegen die Eindringlinge zur Wehr setzen, sind eine weitere unbekannte Variable.
Zum Gelingen des Gesamtkunstwerks tragen  die fiebrigen Bilder von Kameramann Wally Pfister und der hypnotische Score von Hans Zimmer bei.   Man muss den Film  mehrmals sehen, um alle Anspielungen zu verstehen.  Nolan, der zehn Jahre lang am Drehbuch gearbeitet haben soll,  zieht  seine Inspirationen aus vielen Quellen:   Er  verbeugt sich mit seinen Tableaus des Surrealen  vor dem niederländischen Grafiker M.C. Escher, dessen viereckige endlose Treppe auch in „Inception“ zu sehen ist. Die  Werke   von C.G. Jung   zur Traumanalyse  standen  ebenso Paten. Dazu  Anspielungen auf die griechische Mythologie. Nicht ohne Grund heißt  die    Traumarchitektin   Ariadne – genauso wie die  Frau, die Theseus aus dem Labyrinth des Minotaurus hilft.
 Mit traumwandlerischer Sicherheit schnürt Nolan das alles zu etwas völlig Neuem zusammen.  Vielleicht  paradox: Als Zuschauer möchte man  in seinem  oft verstörenden Irrgarten der Illusionen so lange wie möglich bleiben. „Inception“ ein Film für Träumer? Auch das.
René Erdbrügger

Herausragend


Sonntag, 20. Januar 2013

Freitag, 18. Januar 2013

Kurz belichtet

"Hitchcock": Charmantes und teilweise ironisches Biopic über den Master of Suspense. Spielt zu der Zeit, als Alfred Hitchcock "Psycho" drehte.
Sehenswert

"Les Misérables": Große Gefühle, große Songs. Überragendes Musical nach Hugos "Die Elenden", das alle anderen Oscar- Nominierungen auf die Plätze verweist.
Herausragend

"The Impossible": Familie wird  in Folge eines  Tsunamis getrennt. Intensives Drama nach einer wahren Begebenheit.
Sehenswert

"Flight": Denzel Washington als besoffener Pilot, der eine Notlandung hinzaubert und das Leben vieler Menschen rettet. Im Mittelpunkt steht die Frage: Ist er ein Held oder ein verantwortungsloser Kerl? Großartig gespielt, und am Ende gibt es keine happyendartigen Mätzchen.
Sehenswert

"Django Unchained": Das lang erwartete Sklaven-Western-Exploitation-Spektakel überzeugt nicht ganz. Weniger überraschend als vermutet. Als hätte Quentin Tarantino die Blaupause von "Inglourious Basterds" verwendet. Dieselbe Masche. Doch es fehlt an der Schärfe, an den Lachern, der einem im Hals stecken bleiben sollen.
 Sehenswert

"Back in the game":  Clint Eastwood ist als Schauspieler zurück im Spiel. Das Sportdrama mit Eastwood, das Eastwood-Mitarbeiter Robert Lorenz gedreht hat, ist im Stil von Eastwood-Filmen gehalten. Ein bisschen zu viel Eastwood für meinen Geschmack.
Annehmbar

"Killing Them Softly" Brad Pitt ist hier ein Killer, der zwei Möchtegern-Ganoven hinrichten soll, die eine illegale Spielrunde überfallen haben. Sehr cool und zynisch und mit einem grandiosen Nebenauftritt von James Gandolfini ("Sopranos").  Den Satz am Ende des Films muss man sich merken: "Amerika ist kein Land, sondern business".
Sehenswert

"7 Psychos": 
Versoffener Autor (Colin Farrell) schreibt Drehbuch über sieben Psychopathen und bekommt es mit eben solchen zu  tun. Beginnt vielversprechend, doch Regisseur Martin McDonagh ("Brügge sehen... und sterben?" wechselt zwischendurch die Erzählstile. Manches wirkt zerfahren.
Annehmbar

"End of Watch": Zwei Bullen in LA. Und der Zuschauer sitzt auf der Rückbank. Leider ohne großen Pepp und pseudo-dokumentarisch inszeniert.
Uninteressant

"Life of Pi": Philosophisches Märchen über einen Jungen, der mit einem Tiger nach einem Schiffsuntergang in einem Rettungsboot hockt. Nicht so zauberhaft, wie das fast überall zu lesen war.
Annehmbar

"Silver Linings": Liebesgeschichte zwischen einem depressiven Lehrer, dem die Frau weggelaufen ist, und einer jungen auch aus dem Gleichgewicht gebrachten Frau, deren Mann gestorben ist. Das hat etwas von einer Screwball-Komödie, obwohl einem der Seelen-Striptease und die Aussage "Verrücktsein ist normal" manchmal auf die Nerven geht
Sehenswert

"The Sessions": Ein körperlich schwer behinderter Mann sucht Hilfe bei einer Sex-Therapeutin (Helen Hunt). Am Anfang gewöhnungsbedürftig, am Ende schrecklich konventionell.
Annehmbar

"Zero Dark Thirty": Viel Vorschusslorbeeren (und Golden-Globe- und Oscar-Nominierungen) gab es für den Thriller, der von der Jagd nach Osama bin Laden erzählt. Der Titel, übersetzt mit 30 Minuten nach Mitternacht, bezieht sich auf den Zeitpunkt, wo bin Laden getötet wurde. Leider gelingt es Regisseurin Kathryn Bigelow nicht, Stellung zu nehmen. Man könnte den Film durchaus auch als Rechtfertigungsbeitrag  für die Foltermethoden des Militärs und des CIAs verstehen. Nach dem Motto: Der Zweck heiligt die Mittel. Und dennoch: Die zahlreich gezeigten Folterungsszenen (wie Waterboarding) sind menschenverachtend.
Zwiespältig

Dienstag, 15. Januar 2013

Ansturm auf das coole Beluga-Kino


Besucherrekord: 92000 Filmbegeisterte besuchten 2012 das Lichtspielhaus

Selbstverständlich kinoverrückt: Die Beluga-Betreiber Bernd Keichel und 
Kai Bartels. Foto: Erdbrügger

Quickborn Die 100000 Besucher-Marke  wollen die beiden Kinobetreiber  nächstes Jahr  knacken, doch schon jetzt gibt es  einen Rekord zu feiern: „2012 sind 92000 Besucher in unser Kino gekommen.  Das ist unglaublich, wenn man bedenkt, dass die Stadt etwa 20000 Einwohner hat und der Bundesdeutsche nur 1,6 mal im Jahr ins Kino geht“, sagt Kai Bartels. Ihm gehört  zusammen mit Bernd Keichel das Beluga-Kino in Quickborn. Sie übernahmen das Lichtspielhaus 2004 und  schafften es, dass sich die Besucherzahl bis heute verdreifacht hat.
„Wir sind ein  Familienkino“, sagt Bartels. Ein Blick auf  die ersten Plätze der  meistgeschauten Filme im Beluga-Kino bestätigt das:  Den ersten  Rang belegt  „Ice Age 4“, gefolgt von „Ziemlich beste Freunde“ und „Ice Age“.  Über viele  Stammgäste können sich Bartels und Keichel ebenfalls freuen:  „Manche kommen zweimal die Woche, und zwei Drittel der Gäste kennen  wir  mit Namen“, sagt Bartels.  Längst kommen  die  Besucher nicht nur  aus der Eulenstadt. Das   Beluga-Kino bedient auch die Bedürfnisse der Bürger nach den bunten Träumen auf der Leinwand in den Orten entlang der AKN-Linie: Bönningstedt, Hasloh, Ellerau,   Eidelstedt, Schnelsen und Niendorf.  Auch Norderstedter sind unter den Besuchern.
Um möglichst das Interesse eines großen Publikums zu erreichen, fahren Bartels und Keichel mehrgleisig. Technisch ist das Kino mit den vier Sälen auf dem neuesten Stand: Im Juni  ist   der letzte Saal digitalisiert worden, damit Zuschauer nicht nur 3 D-Filme, sondern jeden Film in lupenreiner Qualität sehen können.
Kaviar oder Wal? Die Beluga-Betreiber haben sich für das Säugetier im Logo entschieden. Foto: Erdbrügger
Im Dezember zum Start von „Der Hobbit“ der nächste Quantensprung: Das Kino wurde mit  hochmoderner HFR-Technik ausgestattet, denn das Fantasy-Märchen   läuft  auf der Leinwand  superscharf  mit    48 Bildern pro Sekunde. Bei herkömmlichen Filmen sind es 24 Bilder.
Doch eine perfekte Technik reicht allein nicht aus, um die Zuschauer  zu begeistern. „Da können sie auch ins Cinemaxx nach Hamburg fahren“, sagt Bartels.   Was Multiplexkinos schon abgeschafft haben, bietet das Beluga-Kino noch an: Auch 3D-Kino montags zum  Preis von 6,50 Euro. „Wir wollen nicht in Luxusvillen leben. Das Verhältnis passt“, so Bartels.
Doch  er und sein Partner  legen noch eine Schippe drauf:  „Wir machen nicht einfach nur Kino“, sagt Bartels. Mit immer neuen, pfiffigen Ideen  überrascht er seine Besucher. Seien es  Vier-Gänge-Menüs oder eine Spekulatius-Sahnetorte, von Bartels selbst gekocht und gebacken,   im Rahmen  von  Filmsondervorführungen,   Live-Musik-Übertragungen  oder die legendären  Stripperauftritte  bei der „Ladies Night“ –  an  guten Einfällen fehlt es Bartels nicht. 
Kürzlich hat er sogar die Vorführung von „Jack Reacher“ kurz unterbrochen, weil  ein Kinobesucher seiner  Freundin einen Heiratsantrag machen wollte. „Sie hat angenommen“, so Bartels.
Das alles  hat sich  rumgesprochen. Bartels:  „Bei der Zielgruppe der 16- bis Mitte 20-Jährigen waren  wir früher uncool. Im Sommer bei den Vorführungen von „Ted“ standen die Jugendlichen  plötzlich bis ins  Treppenhaus Schlange. Da wusste ich: Jetzt sind wir cool.“
René Erdbrügger
www.beluga-kino.de

Donnerstag, 10. Januar 2013

Unterwäsche in luftiger Höhe


Tobias Zafts neue Lichtinstallation „Dresscode“ soll die  Hamburger aufrütteln / Konzept-Künstler pendelt zwischen Peking und Quickborn 

Quickborn/Hamburg  In China ist er schon ein Superstar der Kunstszene. In Europa steht er womöglich vor dem ganz großen Durchblick: Tobias Zaft. Ab Montag will er in Hamburg mit seiner neuen Lichtinstallation „Dresscode“ für Furore sorgen. Dort wird er  ein  30 Meter langes Stahlseil  in 16 Meter Höhe über die Mönckebergstraße spannen lassen. Zwischen dem  Levantehaus  und der gegenüberliegenden Straßenseite. Daran hängen Wäschestücke aus Acrylglas, die  von innen mit LEDs beleuchtet werden – ein Spektakel, hinter dem allerdings eine  tiefere Bedeutung steckt. Ab 18.30 Uhr kann es bestaunt werden.
Gestern waren  Tobias Zaft und  seine charmante Frau  Zijuom Zaft zu Besuch in Quickborn.  Beide  leben und arbeiten hauptsächlich in Peking. Jedes Jahr halten die beiden  sich mehrere Wochen in der Eulenstadt auf.  Die Familie wohnt hier. Sein  Vater,  Edwin Zaft, ist selbst Künstler  und führt  das Offene Atelier an der Kieler Straße.  Der junge Künstler  ist auch  in Quickborn gemeldet, hierhin lässt er auch seine Post schicken. Weilt  er in China, hält er den Kontakt mit der Eulenstadt: „Über Skype unterhalten wir uns mit Tobias in Peking, Shanghai oder Tokio häufiger als mit unserem Sohn in Hamburg“, sagt Edwin Zaft.
Die Familie hat den Berufswunsch, als freier Künstler zu arbeiten, von Anfang an gefördert und unterstützt. „Seine Begabung war schon als Kind und in der Grundschule sichtbar – selbst ein Laie konnte das erkennen“, sagt sein Vater stolz.
Tobias Zaft, der fließend Chinesisch und Englisch spricht,  winkt ab. Das müsse  ja nicht in die Zeitung. Er ist hochkonzentriert. Trinkt Tee. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Tablet,  auf dem er mir den digitalen Entwurf   von „Dresscode“ zeigt. Der PC – auch er gehört  wie Stift, Pinsel und Papier  zum  Instrumentarium eines modernen Künstlers. 
Tobias Zaft berichtet über seine Vita und sein Kunstthema: „Der Mensch in seiner Umgebung.“   Nach dem Studium der Freien Kunst an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, wo er seine Frau kennen lernte,  kommt er über ein Stipendium nach China, wo er an der Central Academy of Fine Arts Beijing studiert.
Vor drei Jahren erregte seine Videoinstallation „Ding, Gang, Chui“ auf den Fassaden der Hochhaus-Türme des Jinchangan-Towers in Peking weltweit Aufsehen (wir berichteten):  Jeden Tag sind auf dem Gebäude die Umrisse von zwei Händen zu sehen, die „ Schere, Stein, Papier“, wie es bei uns heißt,  gegeneinander spielen.  „In einem chinesischen Spielfilm sieht man sie sogar im Hintergrund, und auch in einem Werbetrailer über China, der am Times Square gezeigt wird, ist sie zu sehen“, sagt er.
In Asien hat  er sich damit  seine ersten Meriten verdient. Inzwischen kann  er  auch von seiner Arbeit leben: „Früher waren die Fürsten die Mäzene der Kunst“, sagt Tobias Zaft, „heute sind es teilweise die multinationalen Unternehmen“.
Auf acht bis zwölf Projekte kommt Tobias Zaft jedes  Jahr.     Jüngste Werke: Sein Objekt „Fragile“, ein getunter Getränkeautomat, und  seine Raum-/Licht-Installation „Flexipolis“, für die Fritz Langs Film Metropolis“ Pate stand, ein  Highlight auf der Messe „Design Week“ in Peking.
Warum  arbeitet er in Asien? „China gibt mir die zur Arbeit nötige Inspiration als Gegenmodell zum westlichen Weltbild“, sagt er. In China hat er in den Metropolen die riesigen Flächen, die er für seine Lichtinstallationen braucht. Die Chinesen seien  unbürokratischer, schneller zu begeistern und  durch persönliche Kontakte besser zu erreichen.
Reinreden lässt er sich indes  nicht.  „Meine Arbeiten entstehen intuitiv. Es geht um die Idee dahinter“, sagt er.  Wie bei seinem neuen Lichtkunstwerk. „Ich will damit die Grenze vom Privaten zum Öffentlichen überschreiten. Öffentliche Räume werden heute von Politik und Wirtschaft gestaltet. Je weiter die Entwicklung eines Landes voranschreitet, desto austauschbarer  ist es. Übrig bleibt eine kalte, sterile Atmosphäre“, sagt Tobias Zaft. Bis zum 28. Februar wird er in Hamburg mit „Dresscode“ auf künstlerische Weise dagegen angehen.

René Erdbrügger

Montag, 7. Januar 2013

Die fünf schlechtesten Filme der Jahres 2012 und 2011

Man kann zwar alle guten Filme sehen, aber nicht alles schlechten.
Für fünf hat die Zeit dann doch gereicht:

"Cloud Atlas" (Pressevorführung): Alles hängt miteinander zusammen. Das ist die Botschaft des Films. Doch das Werk, das mehrere Geschichten aus verschiedenen Epochen erzählt, wirkt  inkohärent und nicht rund.  Hanks und Berry spielen  mittelmäßig bis unmotiviert. Die Die SF-Geschichte über das Mädchen in der Zukunft ist allerdings makellos und wunderschön erzählt. Zwiespältige Gefühle.

"Total Recall": Das Remake reicht dem Arnold-Schwarzenegger-Klassiker nicht das Wasser. Die Spezial-Effekte aus dem Computer machen den Film beliebig. More of the same. Hat man alles schon mal viel besser gesehen.

"Savages": Oliver Stone in der Schaffenskrise? Schon lange. Dieser Drogen-Thriller ist überzeichnet, aber  nimmt sich dennoch ernst. Das ist das Manko, denn handwerklich ist der Film makellos. Stone sagt,
er wolle auf die seiner Meinung nach schlechte Drogenpolitik in den Staaten aufmerksam machen.

"The Man with the Iron Fists" (Pressevorführung): Schuster bleib' bei Deinen Leisten. Das Debüt des Rap-Sängers RZA glänzt durch Untalentiertheit. Die ersten drei Minuten des Martial-Arts-Film sind in ganz Ordnung, dann wird's schlimm. Von der Story über den Schnitt bis zu den Dialogen - hier stimmt gar nix. What a waste of time! Womöglich der schlechteste Film des Jahres.

"The Hobbit" (Pressevorführung): Ob der Film gut ist,vermag ich nicht zu sagen. Weil ich mich die ganze Zeit über die 48 Bilder pro Sekunde maßlos geärgert haben.Wie eine Live-Übertragung. Der Kino-Charme, den ein Fantasy-Film haben müsste, geht verloren.Gebe dem Streifen aber noch eine Chance und warte die Bluray-Veröffentlichung ab.


Die Gurken aus 2011



1. „Wall Street 2 – Geld schläft nicht“ (USA),  Regie: Oliver Stone
Im Original von 1987 ist alles über  Spekulationen an Börsen gesagt worden. Der Aufguss ist Murks, weil aus Stones erster Abrechnung  mit der Finanzwelt niemand Konsequenzen gezogen hat und weil Banker Gordon Gekko (Michael Douglas)  zum Gutmenschen mutiert.
2. Eat, Pray, Love“ (USA) Regie: Ryan Muphy
In dem „Chick Flick“ flüchtet eine Reiseredakteurin  (Julia Roberts)  vor ihrer gescheiterten Ehe und geht auf einen Selbstfindungstrip, an dessen Ende eine neue Liebe steht. Der Hochglanzfilm will uns glauben machen, jeder von uns könnte von heute auf morgen aus seinem Leben ausbrechen. Ist das so? 
3. „Kiss and Kill“  (USA), Regie: Robert Luketic   Diese misslungene Krimi-Komödie schwimmt im Fahrwasser  von Klassikern wie „Über den Dächern von Nizza“ und „Charade“. Gut gemeint, aber die Story  über einen Auftrags-Killer (Ashton Kutcher), der mit der überdrehten Urlauberin Jen (Katherine Heigl) ein neues Leben beginnen will, ist nur bizarr.
4. „3-D-Betrug“
Was wir 2011 nicht mehr im Kino sehen wollen, sind Filme wie „Kampf der Titanen“, die nachträglich für 3-D aufbereitet worden sind. Das ist Betrug am Kunden, der mehr für die Kino-Karte hinblättern muss, aber keine  brillante Dreidimensionalität geboten bekommt. 
5. „Adèle und das Geheimnis des Pharaos“ (Frankreich), Regie: Luc Besson Auf sein Konto gehen moderne Klassiker wie „Nikita“ und „Léon – Der Profi“. Mit „Adèle und das Geheimnis des Pharaos“ hat sich Luc Besson aber nicht mit Ruhm bekleckert. Ein aus vielen Versatzstücken bestehender Fantasystreifen. 

Sonntag, 6. Januar 2013

Porträt: Sein Herz schlägt im Takt der Bluesmusik


Veranstalter Detlef Westphal holt Bands aus der ganzen Welt ins Quickborner Kamphuis

Detlef Westphal und sein geliebter VW-Bus. Foto: Erdbrügger
Von außen ein Wohnhaus, aber innen drin wird abends  gerockt: Das Kamphuis. Foto: Erdbrügger
Detlef Westphal  lässt sich nicht lange bitten. Um eine Anekdote ist er nie verlegen.  Die folgende Geschichte erzählt er  mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.  Sie handelt von einem Niederländer, der im Quickborner Kamphuis  ein Konzert  besuchen wollte. Mit dem Auto machte dieser sich auf den Weg nach Schleswig-Holstein. Per Navi erreichte der Mann aus Rotterdam nach stundenlanger Autofahrt  die Kampstraße. Doch der Blues-Fan  traute seinen Augen nicht. Völlig unerwartet stand  er vor einem weißen, unscheinbaren Einfamilienhaus mitten in einer ruhigen Wohnsiedlung.  Seine ersten, panischen  Gedanken: „Hier kann doch kein Konzert stattfinden. Hier bin ich doch total verkehrt. “
Ortskundige wissen längst, dass er hier genau richtig war. Wenn es auch unglaublich klingt:  In dem kleinen Gebäude ist die Musikkneipe Nummer eins im Kreis Pinneberg untergebracht: das Kamphuis. Auf Hochdeutsch: Das Haus an der Kampstraße. Gebaut wurde es wohl  Anfang der 70er Jahre.  Im oberen Stockwerk wohnen jetzt die derzeitigen Pächter Olaf und Kristina Pralle. Abends stehen sie im Erdgeschoss am Tresen und bewirten die Gäste. Die Post geht in dem nur zirka 70 Quadratmeter großen Pub, in dem außer acht Biersorten vom Fass sowie edlen Whiskeysorten auch  Guinness serviert wird und wo noch  geraucht werden darf,  an den Wochenenden so richtig ab, wenn die Bluesrock-Elite aus der großen weiten Welt dort in die Saiten ihrer Gitarren greift. Dann ergötzt sich das bunt gemischte Publikum an den mal rauen, mal swingenden Klängen. Dann sitzt oder steht der Büroangestellte im feinen Anzug neben dem Altrocker in abgewetzter Jeans und T-Shirt.
Dass das Kamphuis in der internationalen Szene einen exzellenten Ruf hat, ist Detlef Westphal zu verdanken. Der Quickborner  ist  für das Veranstaltungsprogramm verantwortlich, dem er im Laufe der Jahre seinen Stempel aufgedrückt hat.  2002 kam Westphal auf den Gedanken, aus dem Lokal eine Musikkneipe zu machen. Seine Überlegung: „Das Kamphuis ist zwar klein, aber urig und hat eine tolle Atmosphäre. Hier können auch Bands auftreten.“  Mit seinen Plänen  stieß er bei der damaligen Pächterin auf offene Ohren. Der Rest ist eine jetzt neuneinhalb Jahre währende Erfolgsgeschichte.
„Mit Amateurbands sind  wir angefangen, aber wir haben das Niveau und die Qualität ständig angehoben“, resümiert er. Mit der  Arbeit als Veranstalter für das Kamphuis hat sich der 64-Jährige  einen großen Traum erfüllt. Es ist allerdings nur eine Tätigkeit in einer beachtlichen  Reihe von Jobs, die Westphal ausgeübt hat. Er ist das, was der Volksmund einen Tausendsassa nennt. „Ich habe drei Ausbildungen gemacht“, sagt er stolz.
Der gebürtige Itzehoer, der seit 1954 in Quickborn lebt, erlernte zunächst in Haseldorf den Beruf des Bootsbauers, obwohl er zur See fahren wollte. „Aber mein Vater hatte es mir verboten. Ich sollte erst einen anständigen Beruf erlernen.“ Lange sollte er nicht in dem Job arbeiten. Sein „alter Herr“ wurde schwer krank und bat ihn, den Familienbetrieb in Quickborn  zu übernehmen. Westphal ließ sich nicht lange bitten und machte seinen Maler-und Lackierer-Meisterbrief.  „Das war aber nicht so meine Welt“, verrät Westphal, weswegen er nach seiner Scheidung in den 80er Jahren zu sich sagte: „Ich bin ein bunter Hund und möchte nur noch das machen, worauf ich Bock habe.“
Und große Lust hatte Westphal  immer schon auf Musik. „In meiner Jugend gab es keine Diskos. Es wurde Live-Musik gespielt. Ich habe  immer schon die  Bands bewundert.“   Von heute auf morgen sprang er ins kalte Wasser: Westphal  begann, im norddeutschen Raum selbst zahlreiche Live-Acts zu veranstalten. „Ein Traum ging für mich in Erfüllung“, sagt er.
 An diese Zeit denkt er heute noch gern zurück, weil der Erfolg nicht lange auf sich warten ließ und ihn darin bestätigte, das Richtige getan zu haben. Der Kontakt mit den Musikern animierte ihn schließlich, selbst Musik zu machen. Westphal lernte,  die Bluesharp  zu spielen -  eine Mundharmonika, die dem Blues erst den typischen Sound gibt. Ein Tipp: Wer wissen möchte, wie toll dieses Instrument klingt, sollte sich mal den Song „The River“ von Bruce Springsteen anhören.
Erfolg hin oder her:  Angekommen war Westphal immer noch nicht. Wieder schlug er ein neues Kapitel in seinem Leben auf. Endlich konnte er sich nämlich einen Traum erfüllen und  zur See fahren. Er heuerte als Discjockey auf dem Kreuzfahrtschiff Maxim Gorkiy an und legte im Nachtclub Oldies für die Passagiere auf. Während das Schiff in den jeweiligen Häfen vor Anker lag, schaute er sich die ganze Welt an. „86 Länder. Von Alaska bis Kap Horn“, berichtet er.
Nach acht Jahren fand Westphal jedoch, dass es jetzt ein guter Zeitpunkt war, mit seiner Arbeit als Discjockey aufzuhören: „Ich wollte nicht der zweite Johannes Heesters werden,  zu dem die Leute hinter vorgehaltener Hand sagen: Was will der alte Knacker hier?“ Noch einmal wurden die Karten neu gemischt. Der Ruhelose hatte in der Zwischenzeit  die SAE-Tontechniker-Schule   in Hamburg absolviert. Es folgte ein Job als Tontechniker auf der Aida.
Seit 1997 gehört Westphal zu den glücklichen Menschen, die von zu Hause aus arbeiten können. Dafür  baute er einen Teil seines Hauses zum Tonstudio um und gründete den Moin-Moin-Verlag. Den Schwerpunkt seiner Arbeit legte er auf die Restauration alter Tondokumente. Eine kaum mehr zu verstehende Rede vom Kaiser Wilhelm auf einer verkratzten Schelllackplatte –  mit Westphals Knowhow wird sie wieder hörbar. Alte Aufnahmen von Orchestern? Kein Problem. Nachdem sie der Quickborner mit seiner Software vom Brummen, Rauschen und Rumpeln  befreit hat, klingen sie, als seien sie gestern aufgenommen worden. Musiker des NDR und Schauspieler vom Ohnsorg-Theater bekamen von seinen Fertigkeiten schnell Wind und gehörten zu seinen  Kunden, denn sie besaßen noch Unmengen alter, ramponierter Tonträger. Aber auch der Normalbürger kam mit seinen alten Schallplatten und Tonbändern zu Westphal.
 Sein zweites Standbein war die Produktion und das Einspielen von zahlreichen Hörbüchern auf Plattdeutsch. „Es ist eine schöne Sprache und kein Dialekt. Wenn man über schlechtes Wetter auf Plattdeutsch berichtet, hört sich das halb so schlimm an wie auf Hochdeutsch“, sagt er. Auch Kinderlieder umfasste sein Verlagsprogramm. Und selbstverständlich mischte er in dem Tonstudio die Platten seiner ehemaligen Band, den „Road Dogs“, ab. Die Gruppe, deren Markenzeichen erdiger Blues-Rock war, hat heute noch einen legendären Ruf, nachdem sie ihr Können während ihrer Auftritte als Vorband von „Lotto King Karl“ und „Torfrock“  im Quickborner Holstenstadion unter Beweis stellte.
Kein Wunder, dass sich Westphals Liebe zum Blues auch  im Veranstaltungsprogramm des Kamphuis widerspiegelt: Pop-und Diskomucke, Rave und  Rap haben keine Chance. „Die heutige Musik kommt vielfach aus dem Computer. Alles hört sich gleich an und ist musikalisch austauschbar, beliebig und belanglos“, fasst er die Qualität  in der heutigen Musiklandschaft harsch zusammen.
Anders hingegen der Blues-Rock. Da gerät Westphal, der eingefleischter „Rolling-Stones“-Fan ist, wovon ein Sticker mit der berühmten Zunge vom Cover der LP „Sticky Fingers“  am Revers  seiner alles geliebten schwarzen Lederweste  Zeugnis gibt,  ins Schwärmen: „Die Stones haben  mit Bluesmusik angefangen. Der Blues ist eine gefühlvolle Sache. Er  ist auf den Baumwollfeldern im Süden der USA Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und wurde von den Sklaven gesungen. Sie sangen nicht für Geld, sondern aus der Not heraus“, beschreibt er diese Musikrichtung.
Für diese  Authentizität stehen auch die Bands, die im Kamphuis bislang aufgetreten sind. Das Kriterium: Sie müssen Westphal  gefallen. Wie einst der Schriftsteller Oscar Wilde hat  der Quickborner einen ganz einfachen Geschmack: Ihm gefällt eben nur das Beste. Dazu gehören nun mal John Campbelljohn aus Kanada, der Amerikaner Todd Wolfe, der früher bei Sheryl Crow mitmischte, Jason Buie aus Vancouver, die Band  „Vdelli“ aus Australien und die englischen Shooting-Stars „The Brew“. Der Ex-„Leningrad-Cowboy“, Ben Granfelt, spielte in der Musikkneipe genauso wie  Marcus Deml, der zu den besten Gitarristen der Welt zählt. Besonders stolz ist Westphal auf einen Auftritt des „Giant of Blues“ Louisiana Red (79). „Er hat als Kind noch Baumwolle gepflückt“, weiß Westphal. Authentischer könne es  gar nicht sein. Als weiteren musikalischen Leckerbissen erwartet das Kamphuis-Team die „Kris Pohlmann Band“ zum zweiten Mal, die 2006 als beste Rhythm ´n` Blues-Gruppe Deutschlands ausgezeichnet wurde.
 „Viele Musiker kennen sich alle untereinander. Sie machen Mundpropaganda. Da sagt dann der eine zum anderen: Du musst unbedingt mal im Kamphuis gespielt haben. Das ist ein toller Laden. Dafür nehmen sie sogar niedrigere Gagen in Kauf“, verrät Westphal. Gefragt, was  denn so besonders an  der Kneipe sei, antworteten die Musiker sofort: die Akustik und die Atmosphäre, berichtet der Veranstalter.
Kurios: Warum der Sound in der Kneipe so gut ist, dafür habe bisher niemand eine Erklärung gefunden. Für das hervorragende Feeling indes schon. Wer mal  bei einem Konzert dabei war, kann es sich leicht denken. Es hängt damit zusammen, dass es in dem Lokal keine Bühne gibt. „Wenn eine Band auftritt, räumen wir ein paar Tische weg. Eine PA-Anlage stellen wir zur Verfügung. Die Musiker müssen nur ihre  Instrumente mitbringen. Schon geht es los“, erklärt Westphal, der jedes Mal am Mischpult steht.   Diese Intensität würden die Bands  auf keiner großen Bühne dieser Welt erleben. In der Tat: Wer an der einen Seite des  Tresens sitzt, bräuchte nur seine Hand auszustrecken, um den  Musikern auf die Schulter zu klopfen.
Diese besondere Atmosphäre führt dazu, dass ein Schlagzeuger schon mal ein 20-minütiges Soli hinlegt oder die Bandmitglieder sich in den Pausen unter die Gäste mischen, um zu fachsimpeln. „Das kommt bei uns häufiger vor“, sagt Westphal. Und auch, dass der Veranstalter bei den Bands selbst mitspielt.
Aber stört der Lärm  die Nachbarn nicht? „Mit denen gab es bisher überhaupt keinen Stress. Bei Open-Air-Konzerten feiern sie  mit.“ Dennoch hat der Inhaber kürzlich in den Lärmschutz kräftig investiert. „Es ist jetzt minimal, was nach draußen geht.  Die Flugzeuge, die über uns hinwegfliegen, sind lauter“, weiß Westphal.
Auch wenn es für ihn  derzeit sehr gut  läuft, will er kürzer treten.  Sein Verlag steht kurz vor der Auflösung. „Das Leben hat noch etwas Anderes zu bieten“, sagt er. So steht unter dem Carport auf seinem Grundstück ein alter, wunderschöner VW-Bus. Seine  zweite Frau und er wollen mit dem Oldtimer, der etwa 650 000 Kilometer auf dem Buckel hat,  wieder auf große Reise gehen. „Von Korsika nach Schweden. Doch wir wollen den Radius erweitern“, sagt Westphal.
Bei einer Sache bleibt er aber am Ball.   „Das Kamphuis und die Live-Musik sind mein Herzblut. Das werde ich so lange machen, wie ich `krauchen‘  kann.“  Westphal wird also weiterhin die Bluesbands nach Quickborn holen. Für solche Fans, wie den anfangs erwähnten Rotterdamer, der dann doch herausfand, dass die Adresse stimmte. Später schickte der Niederländer Westphal eine E-Mail, in der er das  Konzert in den höchsten Tönen lobte. Aber darüber, dass die kleine, aber urige  Musikkneipe in einem Wohnhaus untergebracht ist, wundert er sich  heute noch.

René Erdbrügger

Samstag, 5. Januar 2013

Die fünf besten Filme der Jahre 2012 und 2011

Vier Blockbuster in der Liste - das ist ein Zeichen für ein qualitativ sehr schlechtes Kinojahr.
Aus der Indie-Ecke kam so gut wie gar nichts, was eine Erwähnung wert wäre.

And here there are:

1) "The Dark Knight rises" (Pressevorführung):
Düsteres Meisterwerk um einen Anti-Superhelden. Regisseur Christopher Nolan auf der Höhe seines Könnens. Ästhetik, Unterhaltung und  Anspruch. Hier stimmt alles.

2) "Prometheus" (Pressevorführung):
Das Prequel zu "Alien" ist visuell brillant, regt aber auch zum Nachdenken an. Ein Genuss,
auch wenn viele Fans meckern.

3) "Skyfall" (Pressevorführung):
Nach "Casino Royale" der besten Bond-Filme alles Zeiten. Auch wenn viele sich den
ironischen Touch zurückwünschen.

4) "Drive":
Coole Krimi-Ballade mit den stilvollsten Autoverfolgungsjagden aller Zeiten. Tolle 80er Jahre inspirierter Soundtrack.Hat das Zeug zum Klassiker.

5) "Hugo":
Früher hätte man dazu Alterswerk gesagt. Doch Martin Scorseses ("Taxi Driver") Märchen über einen Jungen, der in Paris auf den Filmpionier Georges Melies trifft, ist modern erzählt. Die Eingangssequenz, in  der die Kamera in den Pariser Bahnhof Gare Montparnasse und dann in die Bahnhofsuhr fährt, gehört zur schönsten der modernen Filmgeschichte.

Und was wäre der 6. Platz gewesen?
"The Artist", der Quasi-Stummfilm und Oscar-Abräuber aus 2012. Leider spricht über diesen Streifen nur Monate später niemand mehr.




Die Filme des Jahres 2011


 1. „Inception“ (USA), Regie: Christopher Nolan
Es ist die Geburt eines Filmklassikers: „Batman“-Regisseur Nolan schickt einen Traumspion (Leonardo DiCaprio) auf eine Mission Impossible. Er und seine Crew dringen in das Bewusstsein eines Industriellen ein, um ihn zu manipulieren. Die Reise, vielschichtig erzählt und visuell von den „Mind Fucks“ des niederländischen Grafikers M.C. Escher beeinflusst, ist eine traumhafte  Mischung aus Arthouse-Kino und Blockbuster.
2. „Fish Tank“ (GB), Regie: Andrea Arnold
Von den Traumlandschaften zur rauen Wirklichkeit der englischen Vorstädte. Dort lebt die 15-jährige Mia (Katie Javis). Sie ist von der Schule geflogen, strolcht tagsüber durch die Gegend und wird vom  Freund der Mutter verführt, der nach dem Sex nichts mehr von ihr wissen will. Mia dreht durch.  Von der Straße weg engagiert, spielt Javis das zornige Mädchen mit einer Intensität, die in diesem Kinojahr ihresgleichen sucht.
3. „The Kids Are All Right“ (USA), Regie: Lisa Cholodenko
  Um die Zerbrechlichkeit von Familien geht es auch in dieser wunderbaren Komödie. Das Lesbenpaar Nic (Anette Benning)  und Jules (Julianne Moore)  erzieht  seine zwei Kinder. Als der Samenspender-Dad beider Sprösslinge, Paul (Mark Ruffalo), in das Leben der Vier tritt, ist ein emotionales Chaos programmiert, besonders als der Macho sich an Jules heranmacht. Ein Super-Ensemble und geschliffene Dialoge   machen diesen charmanten Film aus.
4. „Vincent will meer“ (Deutschland), Regie: Ralf Huettner
Wer keine richtige Familie hat, muss sich eine suchen: Vincent (Florian David Fitz), der am Tourette-Syndrom leidet, flüchtet mit einem Zwangs-Neurotiker und einer Magersüchtigen aus einem Therapiezentrum, um ans Meer zu fahren. Der Weg ist das Ziel, und der Roadtrip wird zur Selbsttherapie. Das erzählt Huettner zwar mit Humor, aber auch Respekt für seine Figuren. Ein warmherziger Film in der trostlosen deutschen Kinolandschaft.
5.  „Somewhere“ (USA), Regie: Sofia Coppola 
Trostlos ist das Leben des Schauspielers Johnny Marco (Stephen Dorff), der in einer Suite des berühmten Hotels Chateau Marmont am Sunset Boulevard wohnt.  Wie  sinnentleert,  merkt er  erst, als  ihn seine elfjährige Tochter Cleo (Elle Fanning) für ein paar Tage besucht. Sie sitzen am Swimmingpool, spielen mit der Wii, er schaut ihr beim Eiskunstlaufen zu – aus  banalen Augenblicken zaubert Coppola einen Bilderreigen von atmosphärischer Dichte, so dass wir immer wissen, was Vater und Tochter gerade fühlen, ohne uns als Voyeure zu fühlen. Sofia Coppola entbanalisiert das Leben. 



Porträt: Der Wanderer zwischen den Welten


Der Hamburger Professor für Medienmanagement,  Christoph Meier-Siem,  ist   Vorsitzender des  Quickborner Schützenvereins


Hamburg/Quickborn Es ist ein herrlicher Spätsommermorgen  im  Hamburger Stadtteil Alsterdorf. Wir befinden uns in den Geschäftsräumen der  T&M Mediengruppe an  der Bilser Straße. Die Firma ist die größte PR-Agentur für Kinofilme in Deutschland. Sie bringt  unter anderem die „Kino News“ für McDonald’s heraus  und produziert Beiträge fürs Fernsehen wie „Kuno’s“ auf Hamburg 1.  
 Das ist die Welt von Christoph Meier-Siem. Der Hamburger Promi ist Vorsitzender des Quickborner Schützenvereins.  Wer etwas über den Menschen  Meier-Siem  wissen will, der  braucht  sich nur in seinem Büro umzuschauen:  Auf dem Schreibtisch stapeln sich   Unterlagen. Eine kleine Amerika-Flagge ist zu sehen.   Bilder von Rallyes, an denen  Meier-Siem, der leidenschaftliche Motorsportfan,   selbst teilgenommen hat,  hängen an den Wänden sowie  ein Filmposter von  „Wyatt Earp“ und  zahlreiche Aufnahmen von seiner  Tochter Layla, benannt nach dem  gleichnamigen  Song von Eric Clapton, den seine Band „Derek and  the Dominos“ weltberühmt machte.   In einer Vitrine sind Jaguar-Automodelle  ausgestellt, und auf der Fensterbank   liegen aufgereiht Diplomarbeiten von Studenten, die Meier-Siem noch bewerten muss.   Dann ein Blick nach rechts:  An der Wand lehnt ein  Gewehr im Futteral, das aus dem Interieur wie ein Fremdkörper heraussticht, aber auf einen wichtigen Bereich   in   Meier-Siems  Leben hinweist.
Außer seiner Arbeit als Professor am Institut für Kultur und Medienmanagement an der Uni Hamburg mit dem  Schwerpunkt „Europäische Medien im Wandel der  Zeit“ ist  er nicht nur Geschäftsführender Gesellschafter  und alleiniger Inhaber von T&M, nachdem sich  der Mitbegründer und Freund Thomas Timm  zur Ruhe gesetzt hat,    sondern  eben   auch –  man sollte es nicht glauben  –  Vorsitzender des Quickborner Schützenvereins – und das seit mehr als einer Dekade.
Ein Professor aus Hamburg als Vorsitzender eines Schützenvereins in der Provinz? Das klingt seltsam und nach einem Drehbuch für eine kauzige TV-Serie, die wahrscheinlich nur auf NDR   im Nachtprogramm ausgestrahlt werden  würde. 
„Ich war nicht einmal bei der Bundeswehr und hatte mit Waffen nichts am Hut.  Dann sagte ein Kollege zu mir: ‚Ich bin im Schützenverein in Quickborn. Komm mal mit. Das ist ganz toll‘“, erinnert sich  Meier-Siem, der  auch als   Lehrer und Journalist tätig war.
  Zwar  zögerte der Tausendsassa zunächst, dann aber schaute er ein paar Mal vorbei –  und hatte Spaß. Das war 1996.  „Der Zusammenhalt und die Menschlichkeit in dem Schützenverein, die man hier eher hat als in der Großstadt,  haben mir gefallen.“ Meier-Siem blieb und fand seine Disziplin: die Kurzwaffe. Er wurde  Deutscher Meister und  mehrfach Landesmeister. Außerdem kümmerte er sich um die Pressearbeit. Es war nur eine Frage der Zeit, dass der Verein ihn bat, auch den Vorsitz zu übernehmen.
Ein taktisch kluger Zug, denn dem Schützenfest blieben damals die Besucher weg. Es drohte das Aus. Meier-Siem und Quickborns heutiger Bürgermeister Thomas Köppl (CDU) setzten sich an einen Tisch. „Wir müssen mehr mit der Stadt machen und Vollgas geben“, lautete Meier-Siems Vorschlag.
Also klotzen statt kleckern: Statt alles an einem Wochenende auszutragen, dauert das Spektakel nun elf Tage und heißt Schützen- und Eulenfest.   Der gebürtige Hanseate   rief das Weinfest ins Leben  und  engagierte dank seiner guten Kontakte den Hamburger DJ Kuno für die Ü-30-Fete. „Erst kamen 600 Besucher, heute weit über 1000. Der Schützenverein ist jetzt ein Teil von Quickborn, und Quickborn ein Teil des Schützenvereins“, sagt Meier-Siem stolz.  400 Mitglieder hat der Verein heute.
Doch der  Erfolg ist wohl auch seiner einnehmenden Persönlichkeit zu verdanken. Meier-Siem ist einer zum Anfassen, der auf die Menschen zugeht. Er trägt fast immer Jeans, Hemd, ein edles Sakko und seine geliebten Cowboystiefel.    Sportlich-elegant. Von Arroganz keine Spur. Bei T&M wird er geduzt: Eine junge blonde Frau am Empfang  nennt ihn  „Chris“. Karrieristen, die die Ellbogen einsetzten,  seien ihm verhasst.  Über neue Ideen diskutiert er mit seinen Mitarbeitern. Ein bisschen eitel?  Vielleicht. Sein Alter will er nicht verraten. Es könnte ihn jemand fragen, wann er sich zur Ruhe setze, befürchtet er.  Ein Frauentyp? Wohl auch das. Er ist zweimal geschieden, verrät er.   Und in  einem Comic, ein Geschenk seiner Studenten, der  eingerahmt in seinem Büro  hängt,      ist er als      „Juan“ mit pechschwarzen Haaren dargestellt.
Zwei- bis dreimal die Woche fährt Meier-Siem von Hamburg nach Quickborn. Weil er in der Nähe vom Tierpark Hagenbeck wohnt,  braucht er nur zwölf Minuten mit dem Auto, bis er in  der Eulenstadt ist.    Er ist ein Wanderer zwischen den Welten,  der in beiden Städten seine Spuren hinterlässt. Mit Hamburger Persönlichkeiten, die ihr Interesse und Engagement der Kultur- und Medienlandschaft verschrieben haben, beteiligte  er sich an der Gründung  der Hermann-Rauhe-Stiftung und initiierte ein nachahmungswürdiges  Projekt:  Die rund 16000 Hamburger Erstsemester erhielten  zum 1. Oktober vorigen Jahres  mit dem Studentenausweis  auch die  „freiKartE“. „Drei Monate lang konnten sie damit  die Angebote von  Museen und  Bühnen kostenlos nutzen“, erklärt er das Konzept dahinter.  Meier-Siems Liebe für die Kultur spiegelt sich auch im Programm des Eulen- und Schützenfests  wider: Konzerte, Lesungen, Ausstellungen und Kabarett. Welches Stadtfest hat das zu bieten?
Mit einer Sache konnte sich   der Medienwissenschaftler  lange Zeit aber nicht anfreunden, gesteht er.  Es ist die Schützenuniform. Gewöhnungsbedürftig –   immer noch.
Am Sonntag  wird Meier-Siem  wieder nach Quickborn kommen.  Dann hat er  den Professorenhut vorübergehend abgelegt  und ist in  den  grünen Anzug  geschlüpft, um am Festumzug  durch die Stadt teilzunehmen.  Die Uniform nimmt der Individualist  gern in Kauf, denn er  weiß, dass auf ihm  wieder viele  Blicke ruhen werden. Was hat er wohl als Nächstes vor?   „Früher oder später wird es nur noch  zwei bis drei Schützenvereine im Kreis Pinneberg geben. Da wollen wir dazugehören.“

René Erdbrügger

























Dienstag, 1. Januar 2013

J.K. Rowling ohne Zauber


Buchbesprechung: „Ein plötzlicher Todesfall“ ( J.K. Rowling)


Eines muss man J.K. Rowling lassen: Die Harry-Potter-Autorin   zieht mit „Ein plötzlicher Todesfall“  nicht  nur inhaltlich eine klare Grenze zu ihren überaus unterhaltenden Jugendbüchern, sondern auch stilistisch. So kalt, analytisch, aber auch klischeehaft kam schon lange kein Gesellschaftsroman  mehr daher. Dafür fehlt der Zauber.Wenn auch der Vorwurf erlaubt sein muss, dass ihr Plot und das Aufeinandertreffen so  vieler,  psychisch angeknackster  Charaktere, unter denen  nicht ein einziger Sympathieträger ist,  konstruiert erscheint.

Wie ein Laborexperiment, bei dem ein Wissenschaftler sehen will, welcher Reiz welche Reaktion, auslöst, lässt Rowling in dem fiktiven Kaff Pagford den wohl einzig ehrenwerten Bürger,  Barry Fairbrother, auf den ersten Seiten an einem Aneurysma sterben. Mit dem plötzlichen Todesfall wird ein Sitz im Gemeinderat frei, um den sich eine Anzahl scheinbar verdienter Wohlstandsbürger reißt. Dabei schrecken sie auch vor kleinen Gemeinheiten nicht zurück,um den ein oder anderen schlecht dastehen zu lassen.

Weil es Rowling  um  sozialrealistische Komplexität geht, wirft sie auch einen Blick  auf die sozial Schwachen. Auf dem Weg zur Wahl, nimmt sich Rowling erzählerisch, immerhin 575 Seiten lang, einer Vielzahl gesellschaftlicher Probleme an: Drogensucht, Prostitution, Armut, Kriminalität und die Orientierungslosigkeit der Jugendlichen, um nur einige zu nennen.
Auf den ersten Seiten „lauscht“ der Leser Rowlings neuer, ungewohnter Stimme noch gern. Der Mittelteil ist allerdings bleiern, während die Autorin das Tempo auf den letzten 150 Seiten wieder anzieht. Dann wird es sogar spannend. Unterm Strich zu wenig für eine Schriftstellerin vom Schlage Rowlings.  „Ein plötzlicher Todesfall“  ist nämlich  wie "Harry Potter"  - allerdings ohne die fantastischen Elemente und mit viel zu viel Fakten aus dem Leben von Familien wie den furchtbaren Dursleys.  

Joanne K. Rowling: „Ein plötzlicher Todesfall“, Carlsen Verlag, Hamburg 2012, 575 Seiten, Preis: 24,90 Euro