Sonntag, 26. November 2017

"Aus dem Nichts" - Den Opfern eine Stimme geben

Wenn es um den Prozess der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) geht, steht Beate Zschäpe als Angeklagte immer im Vordergrund des Medieninteresses.  Gut gekleidet,die langen Haare frisch gewaschen, präsentiert sie sich im Gerichtssaal. Sie schweigt und lächelt in die Kameras. Von Reue keine Spur. Doch welche seelischen Abgründe verbergen sich hinter ihrer aufgesetzten Fassade? Katja (Diane Kruger), der Antiheldin aus dem neuen Film von Fatih Akin ("Soul Kitchen"; "The Cut"), hingegen ist der Schmerz ins Gesicht geschrieben. Sie ist keine Täterin, sondern ein Opfer.
"Aus dem Nichts" beginnt mit einer Liebesheirat im Gefängnis, wo Nuri (Numan Acar) wegen Drogenhandels einsitzt. Katja hatte ihn während ihres Studiums kennengelernt, er war ihr Dealer. Acht Jahre später ist Nuri rehabilitiert, integriert. Er hat seine Vergangenheit hinter sich gelassen. Nuri  betreibt in Hamburg ein Steuerberaterbüro. Als Katjas Mann und ihr Sohn Rocco (Rafael Santana) bei einem Nagelbombenanschlag in Hamburg-Altona sterben, bricht ihre Welt zusammen. Die junge Frau ist wie betäubt vom Schmerz. Niemand kann ihr in dieser Situation helfen. Die folgenden Tage übersteht sie nur unter Drogen. Selbstmordgedanken plagen sie.
Doch dann verhaftet die Polizei das Neonazi-Paar Edda (Hanna Hilsdorf) und André Möller (Ulrich Friedrich Brandhoff). Beide werden durch die vorgelegten Beweise schwer belastet. Andrés Vater (Ulrich Tukur) gab der Polizei den entscheidenden Hinweis.  In dem folgenden Prozess vertritt Nuris bester Freund, der Anwalt Danilo Fava (Denis Moschitto), Katja als Nebenklägerin. Doch Verteidiger Haberbeck (Johannes Krisch) gelingt es, geschickt Zweifel zu säen – die belastenden Beweise sind nicht so eindeutig, wie zunächst angenommen. Eine zwiespältige Zeugenaussage wird zum Zünglein an der Waage. Schließlich muss das Gericht die Angeklagten freisprechen. In dubio pro reo - im Zweifelsfall für den Angeklagten. Katja, die Frau mit dem Samurai-Tattoo, will das nicht hinnehmen. Sie hat einen Plan.

"Aus dem Nichts" ist ein emotionaler  Mix aus Terrorismus-, Gerichts- und Rachedrama, der in Hamburg beginnt und in Griechenland endet.  Das mag in den heutigen um political correctness bedachten Zeiten nicht jedem schmecken, zumal Fatih Akin sich auf Katjas Seite stellt und dem Zuschauer keine Wahl lässt, als es ihm gleichzutun. In Rückblenden zeigt er das Glück der Familie vor dem Anschlag. Akin, der zusammen mit Regisseur-Legende Hark Bohm ("Nordsee ist Mordsee") das Drehbuch schrieb, geht es nicht um eine sachlich objektive Auseinandersetzung mit dem Thema.  Der deutsch-türkische Regisseur zeigt, dass der Staat -wenn es um Neonazis und Rechtsextremismus geht - auf dem rechten Auge immer blind zu sein scheint. Dafür gibt er den Opfern, in  diesem Fall Katja, eine Stimme.  Die blonde, blauäugige Diane Kruger, die man nur aus US-Blockbustern kennt, zeigt hier, was sie schauspielerisch drauf hat. Die Wandlung von der flippigen Mutter zum eiskalten Racheengel stellt sie überzeugend dar.  Für ihre darstellerische Leistung wurde sie in Cannes mit der Goldenen Palme belohnt.


René Erdbrügger

Freitag, 24. November 2017

"Blade Runner 2049": "Träumen Androiden immer noch von elektrischen Schafen?

Wir schreiben das Jahr 2049. In Los Angeles regnet es immer noch. Ein ständiges Nieseln. Dazu Nebel und Schnee. Noch mehr Gewusel auf den Straßen, noch mehr Digitalisierung. Riesige leuchtende 3-D-Werbeflächen. Außerhalb der Stadt gibt es nur verseuchte Ödnis. 35 Jahre nach der Uraufführung von "Blade Runner", basierend auf dem  Roman "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" des Autors Philip K. Dick (1928 - 1982), hat der franko-kanadische Regisseur Denis Villeneuve ("Arrival") eine Fortsetzung hingelegt, die dem Original in nichts nachsteht, sogar 
erzählerisch noch runder wirkt und mit dessen Ikonografie und philosophischem Impetus respektvoll umgeht, so wenigstens mein erster enthusiastischer Eindruck nach der Pressevorführung, die vor einigen Wochen in Hamburg im Cinemaxx stattfand. Dort begrüßte uns Villeneuve - wenn auch nicht in persona -, so doch mit einer auf die Leinwand projizierten Nachricht und hatte eine Bitte:

Hello my friends,
I am excited for you to see my film today. I have a favor to ask of all of you. I do not know what you will think of my movie, however, whatever you write, I would ask that you preserve the experience for the audience of seeing the film the way you see it today… without knowing any details about the plot of the movie. I know this is a big request, but I hope that you will honor it.
Best, Denis 

In diesem Fall macht es Sinn, sich nicht über den Inhalt auszulassen, weil sich der Plot sozusagen erzählerisch nach Offenlegung eines nicht unwichtigen Details gleich zu Beginn des Films entfaltet wie eine Rose ihre Blätter. Es wird nicht die einzige Pointe bleiben in diesem zwei Stunden und  43 Minuten langen Film, der nie langatmig ist, obwohl es nur wenige Actionsequenzen gibt und entschleunigt wirkt im Vergleich zu gängigen Blockbustern. Als Beispiel sei die nächtliche Rettung aus einem Transporter in der Brandung genannt.
Nur so viel zur Handlung: Der wunderbare Schauspieler Ryan Gosling ("Drive"; "La la Land") geht jetzt als Androidenkiller K, der gleichnamige Antiheld aus Kafkas Roman "Das Schloss" lässt grüßen, auf die Jagd nach Replikanten, also künstlichen Humanoiden, die vom Aussehen her nicht von  Menschen zu unterscheiden sind und in dem dystopischen und total überwachten L.A. der Zukunft nur für niedrige Arbeiten eingesetzt werden. Im Klartext: Sie sind Sklaven und haben keine Rechte. Die Polizistin Joshi (Robin Wright) hat den jungen K losgeschickt, um einem, hört, hört,  angeblich natürlich gezeugten Replikanten den Garaus zu machen.  Diese neue  Spezies erforscht  der Unternehmer Wallace (Jared  Leto), der an einen modernen Dr. Frankenstein erinnert. Und es gibt ein Wiedersehen mit Harrison Ford, der im Original von 1982 den Replikantenjäger Rick Deckard spielte und mit dieser Rolle Filmgeschichte schrieb.
Was man noch verraten darf: Roger Deakins, der Director of Photography, wie Kameramänner in Hollywood zu Recht genannt werden, hat das L.A. der Zukunft in einer gestochen scharfen Hochglanzbild-Ästhetik eingefangen - sei es die blau-graue Farbgebung der Eröffnungsszene in einer Eiweißfarm oder die Wüste Nevadas im orangefarbenen Sonnenlicht -, dass man hier durchaus vom state of the art reden darf, was die Optik betrifft. Was übrigens auch auf das Design und die Ausstattung zutrifft. Schauwerte satt. Visuell einfach makellos und betörend. "Blade Runner 2049" ist eben einer dieser raren SF-Filme, in deren Welt man versinken kann.
Künstliche Intelligenz: Auch hierzu haben die Drehbuchautoren etwas Spekulatives zu sagen: Ks Freundin ist ein Computerprogramm samt Hologramm, das auf den Namen Joi, gespielt von Ana de Armas, hört. Vielleicht eine Weiterentwicklung von Amazons Alexa. Wer weiß? 

Was noch zu sagen ist: Wieder geht es um die Frage: Was bedeutet es eigentlich, ein Mensch zu sein? Was macht den Menschen erst zum Menschen. Was definiert ihn? Machen künstliche Gene einen Unterschied? Sind Erinnerungen und Gedanken nicht die eigentlichen Indikatoren? Oder machen Emotionen und Empathie uns erst dazu? Ob "Blade Runner 2049" ein Klassiker wird? Das Zeug dazu hat er. Time will tell. Nur wovon Replikanten wirklich träumen, bleibt weiter ein Geheimnis.

René Erdbrügger

Originaltitel: Blade Runner 2049
Laufzeit: 163 min.
Produktionsland: Großbritannien / Kanada / USA
Produktionsjahr: 2017
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Denis Villeneuve
Musik: Benjamin Wallfisch, Hans Zimmer
Darsteller: Ryan Gosling, Harrison Ford, Robin Wright, Dave Bautista, Ana de Armas, Sylvia Hoeks, Jared Leto, Carla Juri, David Dastmalchian, Tómas Lemarquis, Mackenzie Davis, Hiam Abbass, Lennie James, Barkhad Abdi