Donnerstag, 5. Dezember 2013

Wohnen wie in Kalifornien

Architektur der Moderne: Familie  Hodel  öffnet die Türen ihres Neutra-Bungalows / Häuser erregen deutschlandweit Aufmerksamkeit


Der Tisch im Wohnzimmer ist gedeckt. Es gibt Kuchen und Kaffee. Wir sind im Haus der Familie Professor  Robert Hodel und Pia Hodel-Winicker. Fünf Zimmer, Küche, Bad und ein  kleiner Keller. Das alles  auf 120 Quadratmetern. Plus Carport. Klingt nach einem  beliebigen 08/15-Eigenheim. Doch weit gefehlt: Die Hodels wohnen in einem jener schmucken, kastenartigen  Flachbungalows an der Marienhöhe, die der österreichisch-amerikanische Stararchitekt Richard Neutra (1892 - 1970)  entworfen hat.
Es ist  eine Siedlung mit Häusern, die ein wenig kleiner sind als die großen Villen, die Neutra in den USA gebaut hat, aber denselben architektonischen Charme versprühen und für ein Lebensgefühl stehen, das die Eigentümer nicht missen wollen: Individualität und Nonkonformismus  strahlen diese Bungalows aus, die deutschlandweit das Interesse bei Architekten und Museen erwecken. Fehlt nur noch  die Sonne Kaliforniens.  Doch in Norddeutschland macht sie sich rar.  
Beim  Besuch  ist der  Quickborner Architekt Jens-Olaf Nuckel als Fachmann mit dabei. Er ist ein Freund der Familie.  Das erste Aha-Erlebnisse für mich: Der Wohnraum  hat  eine große Stahlrahmen-Fensterfront,  durch die man in den Garten blickt. Das Dach ragt weit darüber hinaus. „Die Verzahnung von Innen-und Außenraum ist ein Haupt-Merkmal der Neutra-Häuser“, sagt Nuckel.
„Den erweiterten Raum, dieses Gefühl von Weite“, schätzt der Hausherr, der Professor für Slavistik an der Hamburger Universität ist,  genauso wie die Funktionalität der Architektur im Stil der Bauhaus-Tradition. Deswegen hat Neutra auch auf störende Heizkörper verzichtet. Die warme Luft gelangt durch ein Gebläse in die Räume.
„Es gibt keine Lügen in dieser Architektur. Es wird nichts vorgegeben, was man nicht braucht wie zum Beispiel Säulen“, sagt Hodel-Winicker. Die Konstruktion sei so, dass im Winter die  Sonne ins Wohnzimmer voll hereinscheine, im Sommer  jedoch nicht. „Oft stelle ich nachmittags die Heizung ab, weil sich das Wohnzimmer erwärmt wie ein Wintergarten“, berichtet sie.
Die Licht durchfluteten Räume des Hauses:  Als Malerin weiß Hodel-Winicker das  zu schätzen. In einem hat sie ihr Atelier eingerichtet. „Die Funktionalität des Hauses, die klaren Formen, haben mich bei meiner Malerei beeinflusst“, so die Künstlerin.
So wie die Hodels schwärmen heute viele Besitzer eines Neutra-Hauses. Das war nicht immer so. „Friedrich Wilhelm Krüger, der Vater von Liedermacher Mike Krüger, hatte Anfang der 60er Jahre  als Direktor der Hamburger Betreuungs- und Wohnungsbaugesellschaft den Auftrag bekommen,  in Quickborn eine Siedlung zu bauen. Alle bedeutenden Architekten lehnten jedoch ab. Dann fragte man   Richard Neutra und er sagte ‚Ja‘“, berichtet  Nuckel.
Doch die Avantgarde-Bauten, von Quickborns Bürgermeister Thomas Köppl einmal als „Iglus in der Wüste“ bezeichnet, entwickelten sich zum Ladenhüter. „Statt der geplanten 190 Wohneinheiten ließ die Baugesellschaft nur 67 Bungalows bauen –obwohl jeder Käufer  zu  dem Haus als Zugabe einen VW Käfer bekam“, berichtet Nuckel, der  ein großer Fan von Neutra ist und dem jedes kleinste Detail sofort ins Auge springt. Wie das „Spiderleg“, das wie ein Spinnenbein über den Baukörper hinaus in die Natur ragt. „Es ist deswegen gebaut worden, um die statischen Kräfte nicht in einer dicken Stütze in der Ecke des Fensters abzuleiten. Damit wird die Sicht auf die Natur, auf das Außen eingeschränkt“, erklärt Nuckel die Funktion.
  Wir befinden uns jetzt im Garten, der von den Nachbargrundstücken abgeschirmt zu sein scheint. „Um die Privatsphäre zu schützen, sind die Gärten in der Neutra-Siedlung versetzt“, berichtet Nuckel. Ein weiteres Merkmal von Neutra-Häusern. Obwohl die Funktionalität im Mittelpunkt steht, Neutra hatte bei seiner Architektur immer das Wohl des  Menschen im Sinn.
Dass die Quickborner Traum-Bungalows in den vergangenen Jahren eine Renaissance erfahren haben und das Marta-Museum für zeitgenössische Kunst  in Herford ihnen jüngst eine deutschlandweit Aufsehen erregende Ausstellung widmete (wir berichteten),  ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Siedlung vor neun Jahren unter Denkmalschutz gestellt wurde – trotz vieler Proteste. Einige  der Eigentümer hatten ihre Bungalows zuvor so wild umbauen lassen, dass der typische Neutra-Stil nicht mehr zu erkennen war. Davor schob die Denkmalschutzbehörde jedoch einen Riegel. „Wäre die Neutra-Siedlung nicht unter Denkmalschutz gestellt worden, wären die  Hintergrundstücke auch bebaut worden“, sagt Nuckel.

Bei so viel Begeisterung, fragt man sich, warum Nuckel eigentlich nicht selbst in einem Neutra-Bungalow wohnt. „Ich bin mit Mike Krüger befreundet. Als sein Vater starb und mir die  Familie sein Neutra-Haus angeboten hat, habe ich leider zu lange gezögert –  und dann war das Haus weg.“ sagt Nuckel. Damals hätte der Quickborner Architekt 660000 Mark hinlegen müssen. Heute gehen die Kult-Immobilien der Moderne, die wohl auch in Zukunft an Wert zulegen dürften,  in der Stadt für mehr als 400000 Euro über den Tisch.  Tendenz steigend.


Von René Erdbrügger

Info:
Richard J. Neutra gilt als  einer der wichtigsten Architekten des
20. Jahrhunderts. In Wien geboren wanderte er 1923 in die USA aus, wo er nach Anstellung bei Frank Lloyd Wright und Zusammenarbeit mit Rudolf Schindler 1926 ein eigenes Büro in Los Angeles gründete. Mit seinen ultramodernen Villen, darunter dem Wohnhaus des Hollywood-Regisseurs Josef v. Sternberg (1935), avancierte Neutra bald zu einem der bekanntesten und gefragtesten Architekten in Nordamerika. Zwischen 1960 und 1970  baute er   in Europa Villen und 109 Häuser in Quickborn und Walldorf/Frankfurt. Für  seine Methode wählte Neutra den Begriff des „Biorealismus“. Seine Philosophie: „Es ist  wichtig, dass der Mensch sich stets auch als Teil seiner Umgebung wahrnimmt.“



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