Leinwandadaption des
Romans „Alles, was wir geben mussten“ von Kazuo Ishiguro /
Melancholische Dreiecksgeschichte
Im ersten Moment glaubt man, in dem
neuen Harry-Potter-Film gelandet zu sein. Ein abgeschottetes
Internat irgendwo im idyllischen England. Schüler, gekleidet im
britischen Landhaus-Stil, denen die strengen Lehrer eintrichtern, etwas
Besonderes zu sein. Was sie tatsächlich auch sind – aber anders als wir
vermuten, denn die Romanvorlage zu „Alles, was
wir geben mussten“ stammt nicht von der Potter-Erfinderin J.K.
Rowling, sondern dem Schriftsteller Kazuo Ishiguro („Was vom Tage übrig
blieb“), der sich eine düstere Dystopie ausgedacht hat. Sie beginnt in
dem England eines Paralleluniversums Anfang der
60er Jahre, in dem, so heißt es gleich zu Beginn, aufgrund
bahnbrechender medizinischer Erfolge die Menschen 100 Jahre alt werden,
und endet Anfang der 90er Jahre. Nicht Zauberschüler, die den Bösewicht
Lord Voldemort fürchten müssen, gehen auf das besagte
Internat namens Hailsham. Nein, dort wachsen Jungen und Mädchen auf,
die geklont worden sind und als Organspender dienen. Traurige
Gewissheit: Sie werden ihr 30. Lebensjahr nicht erreichen.
Alex Garland, selbst Schriftsteller und Autor des
Longtime-Bestsellers „The Beach“, hält sich mit seinem Drehbuch eng an
die literarische Vorlage, die sich vom stilistischen Aufbau her dem
Mainstream verweigert. Regisseur Mark Romanek
(„One Hour Photo“) wird ihr mit einer behutsamen Inszenierung, die von
Empathie für die Klone und bitterer Melancholie durchzogen ist, und
mit ruhigen, pastoralen Bildern, in die sich zunehmend ein harter
Grauton einschleicht, gerecht.
Dramaturgische Paukenschläge oder überraschende
Wendungen, was die Story durchaus hergeben würde, werden dafür wie in
Ishiguros Buch ausgespart. Schnell ist die Katze aus dem Sack - eine
Lehrerin klärt die Kinder über ihr unausweichliches
Schicksal auf, um dann wie in einer ethnologischen Fallstudie zu
beschreiben, wie junge Menschen unter dem Damoklesschwert des Todes ihr
Leben gestalten.
Drei dieser gezüchteten Ersatzteillager stehen im
Mittelpunkt der Handlung: Kathy (Carey Mulligan), Tom (Andrew
Garfield) und Ruth (Keira Knightley). Ihre Tage sind von typischen
Teenagerproblemen bestimmt: Tratsch und Klatsch, Liebe
und Eifersucht. Dabei zieht Kathy, seit ihrer Kindheit in Tom
verliebt, zunächst den Kürzeren. Später, als die Jugendlichen – kurz
vor ihrer Bestimmung – in schäbige Cottages ausquartiert werden, bleibt
sie die Beobachterin, die sich hinter Büchern versteckt,
während Tom und Ruth ein Paar sind. Dann ist es Ruth selbst, nach
mehreren Organ-Transplantationen dem Tode geweiht, die Kathy und Tom
zusammenbringt.
Kurz schimmert Hoffnung auf, weil ein Gerücht die
Runde macht, dass geklonte Paare, die sich lieben, von ihrer Bestimmung
angeblich verschont bleiben. Die beiden wollen es wissen und fahren zu
ihrer ehemaligen Schulleiterin (Charlotte
Rampling) – Repräsentantin dieses unmenschlichen Staates, der nicht
in Erscheinung tritt.
Muss er auch nicht: Die Stärke des Films liegt
gerade darin, an der Dreiecksgeschichte die Tragik und Perfidität
einer Zweiklassen-Gesellschaft ohne Moral und Ethik zu knüpfen, in der
das Glück der einen nur durch die determinierte Opferrolle
der anderen möglich ist. Damit wird die herzerweichende Geschichte von
Kathy, Tom und Ruth, deren Naivität nicht erzürnt, sondern rührt, zur
politischen Parabel.
René Erdbrügger
Herausragend
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