Architektur der
Moderne: Familie Hodel öffnet die Türen ihres Neutra-Bungalows / Häuser erregen deutschlandweit Aufmerksamkeit
Der Tisch im
Wohnzimmer ist gedeckt. Es gibt Kuchen und Kaffee. Wir sind
im Haus der Familie Professor Robert Hodel und Pia Hodel-Winicker.
Fünf Zimmer, Küche, Bad und ein kleiner Keller. Das alles auf 120
Quadratmetern. Plus Carport. Klingt nach einem beliebigen
08/15-Eigenheim. Doch weit gefehlt: Die Hodels wohnen in einem
jener schmucken, kastenartigen Flachbungalows an der Marienhöhe, die
der österreichisch-amerikanische Stararchitekt Richard Neutra (1892 -
1970) entworfen hat.
Es ist eine Siedlung mit Häusern, die ein wenig
kleiner sind als die großen Villen, die Neutra in den USA gebaut hat,
aber denselben architektonischen Charme versprühen und für ein
Lebensgefühl stehen, das die Eigentümer nicht missen wollen:
Individualität und Nonkonformismus strahlen diese Bungalows aus, die
deutschlandweit das Interesse bei Architekten und Museen erwecken. Fehlt
nur noch die Sonne Kaliforniens. Doch in Norddeutschland macht sie
sich rar.
Beim Besuch ist der Quickborner Architekt
Jens-Olaf Nuckel als Fachmann mit dabei. Er ist ein Freund der Familie.
Das erste Aha-Erlebnisse für mich: Der Wohnraum hat eine große
Stahlrahmen-Fensterfront, durch die man in den Garten
blickt. Das Dach ragt weit darüber hinaus. „Die Verzahnung von
Innen-und Außenraum ist ein Haupt-Merkmal der Neutra-Häuser“, sagt
Nuckel.
„Den erweiterten Raum, dieses Gefühl von Weite“,
schätzt der Hausherr, der Professor für Slavistik an der Hamburger
Universität ist, genauso wie die Funktionalität der Architektur im Stil
der Bauhaus-Tradition. Deswegen hat Neutra auch
auf störende Heizkörper verzichtet. Die warme Luft gelangt durch ein
Gebläse in die Räume.
„Es gibt keine Lügen in dieser Architektur. Es wird
nichts vorgegeben, was man nicht braucht wie zum Beispiel Säulen“, sagt
Hodel-Winicker. Die Konstruktion sei so, dass im Winter die Sonne ins
Wohnzimmer voll hereinscheine, im Sommer
jedoch nicht. „Oft stelle ich nachmittags die Heizung ab, weil sich das
Wohnzimmer erwärmt wie ein Wintergarten“, berichtet sie.
Die Licht durchfluteten Räume des Hauses: Als
Malerin weiß Hodel-Winicker das zu schätzen. In einem hat sie ihr
Atelier eingerichtet. „Die Funktionalität des Hauses, die klaren Formen,
haben mich bei meiner Malerei beeinflusst“, so die
Künstlerin.
So wie die Hodels schwärmen heute viele Besitzer
eines Neutra-Hauses. Das war nicht immer so. „Friedrich Wilhelm Krüger,
der Vater von Liedermacher Mike Krüger, hatte Anfang der 60er Jahre als
Direktor der Hamburger Betreuungs- und Wohnungsbaugesellschaft
den Auftrag bekommen, in Quickborn eine Siedlung zu bauen. Alle
bedeutenden Architekten lehnten jedoch ab. Dann fragte man Richard
Neutra und er sagte ‚Ja‘“, berichtet Nuckel.
Doch die Avantgarde-Bauten, von Quickborns
Bürgermeister Thomas Köppl einmal als „Iglus in der Wüste“ bezeichnet,
entwickelten sich zum Ladenhüter. „Statt der geplanten 190 Wohneinheiten
ließ die Baugesellschaft nur 67 Bungalows bauen –obwohl
jeder Käufer zu dem Haus als Zugabe einen VW Käfer bekam“, berichtet
Nuckel, der ein großer Fan von Neutra ist und dem jedes kleinste Detail
sofort ins Auge springt. Wie das „Spiderleg“, das wie ein Spinnenbein
über den Baukörper hinaus in die Natur ragt.
„Es ist deswegen gebaut worden, um die statischen Kräfte nicht in einer
dicken Stütze in der Ecke des Fensters abzuleiten. Damit wird die Sicht
auf die Natur, auf das Außen eingeschränkt“, erklärt Nuckel die
Funktion.
Wir befinden uns jetzt im Garten, der von den
Nachbargrundstücken abgeschirmt zu sein scheint. „Um die Privatsphäre zu
schützen, sind die Gärten in der Neutra-Siedlung versetzt“, berichtet
Nuckel. Ein weiteres Merkmal von Neutra-Häusern.
Obwohl die Funktionalität im Mittelpunkt steht, Neutra hatte bei seiner
Architektur immer das Wohl des Menschen im Sinn.
Dass die Quickborner Traum-Bungalows in den
vergangenen Jahren eine Renaissance erfahren haben und das Marta-Museum
für zeitgenössische Kunst in Herford ihnen jüngst eine deutschlandweit
Aufsehen erregende Ausstellung widmete (wir berichteten),
ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Siedlung vor neun Jahren
unter Denkmalschutz gestellt wurde – trotz vieler Proteste. Einige der
Eigentümer hatten ihre Bungalows zuvor so wild umbauen lassen, dass der
typische Neutra-Stil nicht mehr zu erkennen war.
Davor schob die Denkmalschutzbehörde jedoch einen Riegel. „Wäre die
Neutra-Siedlung nicht unter Denkmalschutz gestellt worden, wären die
Hintergrundstücke auch bebaut worden“, sagt Nuckel.
Bei so viel Begeisterung, fragt man sich, warum
Nuckel eigentlich nicht selbst in einem Neutra-Bungalow wohnt. „Ich bin
mit Mike Krüger befreundet. Als sein Vater starb und mir die Familie
sein Neutra-Haus angeboten hat, habe ich leider
zu lange gezögert – und dann war das Haus weg.“ sagt Nuckel. Damals
hätte der Quickborner Architekt 660000 Mark hinlegen müssen. Heute gehen
die Kult-Immobilien der Moderne, die wohl auch in Zukunft an Wert
zulegen dürften, in der Stadt für mehr als 400000
Euro über den Tisch. Tendenz steigend.
Von René Erdbrügger
Info:
Richard J. Neutra gilt als einer der wichtigsten Architekten des
Richard J. Neutra gilt als einer der wichtigsten Architekten des
20. Jahrhunderts. In Wien geboren wanderte er 1923
in die USA aus, wo er nach Anstellung bei Frank Lloyd Wright und
Zusammenarbeit mit Rudolf Schindler 1926 ein eigenes Büro in Los Angeles
gründete. Mit seinen ultramodernen Villen, darunter
dem Wohnhaus des Hollywood-Regisseurs Josef v. Sternberg (1935),
avancierte Neutra bald zu einem der bekanntesten und gefragtesten
Architekten in Nordamerika. Zwischen 1960 und 1970 baute er in Europa
Villen und 109 Häuser in Quickborn und Walldorf/Frankfurt.
Für seine Methode wählte Neutra den Begriff des „Biorealismus“. Seine
Philosophie: „Es ist wichtig, dass der Mensch sich stets auch als Teil
seiner Umgebung wahrnimmt.“
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