„Angel’s Share“ von Regisseur Ken Loach
Whiskey und Sozialromantik: In „Angel’s Share“ schlägt Regisseur Ken Loach („Sweet Sixteen“, The Wind That
Shakes The Barley“) ein paar neue Töne an. Gewöhnlich trinken seine Helden von
der Straße billiges Bier und Schnaps aus dem Supermarkt, um sich voll dröhnen zu lassen und den trostlosen Alltag
zu vergessen. Man denke nur an den Alkoholiker aus „My Name ist Joe“, der nach
einem Knastaufenthalt ein neues Leben anfangen
will. Seit fast 50 Jahren ist Loach (76) der Anwalt der von der Gesellschaft Benachteiligten.
Zusammen mit seinem langjährigen Drehbuchautoren Paul Laverty arbeitet er
ähnlich wie einst Honoré de Balzac (1799 – 1850) an einer Menschlichen Komödie,
nur das der Fokus bei Loach ausschließlich auf den „working class heros“
liegt, die das auszubaden haben, was die
Mächtigen verbocken. In den von der Welt
nicht bemerkten Schicksalen und Tragödien der Sozialhilfeempfänger,
Ausgestoßenen und Säufern wirken die Wehen der großen unbarmherzigen Politik
schmerzhaft nach.
Schon bitter, dass Loach der Stoff für seine oft
warmherzigen und trotzt ernsthafter
Thematik immer lebensbejahenden Filme,
deren Rollen wegen der Authentizität größtenteils mit Laiendarstellern besetzt
sind, auch nach einem halben Jahrhundert
nicht ausgeht. Im Gegenteil: Mittlerweile
klafft die Schere zwischen Reich und Arm immer mehr auseinander. Das Vereinigte
Königreich hat es besonders hart getroffen. 2,685 Millionen Menschen waren Ende
2011 in United Kingdom ohne Job. Sozialleistungen
aber werden gestrichen. Weswegen sich viele Anti-Helden bei Loach an der Grenze zur Illegalität bewegen. Der junge Robbie (Paul Brannigan) hat sie
längst überschritten. In Glasgow steht er wegen Körperverletzung vor Gericht.
Einem Jungen hat er das Auge ausgeschlagen. Doch der Richter waltet Gnade vor
Recht. Er verdonnert den hitzigen Burschen zu gemeinnütziger Arbeit. Der
Umstand, dass seine Freundin ein Kind von ihm bekommt und der verständnisvolle
Bewährungshelfer Harry ihm gut zuredet, lassen den jungen Mann umdenken. Aus
Saulus wird Paulus. Er will seine Leben auf die Reihe bekommen. Verantwortung
übernehmen. Ein Job muss her. Nur wie und wo?
Als Harry mit Robbie und seinen anderen jungen Schützlingen eine Destillerie besucht, wo der
womöglich teuerste Whiskey der Welt für
eine Million Pfund versteigert werden soll, kommt Robbie eine Idee. Er will heimlich etwas von dem edlen Tropfen abzapfen
und durch billigen Alkohol ersetzen. Mit seiner Loser-Clique, dem Säufer
Albert, der Kleptomanin Mo und dem Kleinkriminellen Rhino, heckt er einen
tollkühnen Plan aus. Getarnt in
Schottenröcken, gibt sich das Quartett
Infernale als Vorstand eines
Whiskey-Fanclubs aus und mischt sich unter die Bieter, um Ort und Gegebenheiten
zu sondieren. Auch ein Hehler, der ihnen das teure Gesöff abkaufen soll, ist
schnell gefunden.
Ab jetzt wechselt der
Film die Tonart: Aus einen rauen
Sozialdrama ist eine putzmuntere, spleenige Ganovenkomödie geworden, in der aber niemand zu Schaden kommt. „Oceans
11“ lässt von fern grüßen, wen Loach
auch seinem ungekünstelten, realistischen Stil treu bleibt: schnörkellose Aufnahmen, keine schnellen Schnitte oder
Verfremdungen.
Heiligen die Umstände nun die Mittel? Kann das Loach’s
Botschaft sein? Eine Antwort liefert der
Filmtitel. Wie die Clique in der Destillerie erfährt, verdunsten etwa zwei
Prozent bei der Lagerung des Whiskeys. Dieser Anteil wird poetisch „Angels‘ s Share“ genannt, der „Anteil
der Engel“. Ein bisschen Schwund, den
niemand vermisst. Wohl auch nicht die Reichen, wenn sie einen Teil ihres Vermögens
spenden würden. Oder? Einen Seitenhieb kann sie der Regisseur nicht
verkneifen: Der reiche, selbstgefällige Schnösel,
der den Whiskey für ein Vermögen ersteigert hat, merkt bei der Trinkprobe
überhaupt nicht, dass im Fass nur noch Fusel ist.
Für Robbie und seine kleine Familie ist das Geld aus dem
Coup jedenfalls das Startkapital, um aus ihrem bisherigen Umfeld auszubrechen.
Zu den Klängen des Popsongs „I would walk 500 Miles“ von den „Proclaimers“ fahren die drei in einem gebrauchten VW-Bus in ihr neues,
vielleicht besseres Leben. Für diesen Moment hängt der Himmel voller Geigen.
Auf seine alten Tage scheint aus Loach noch ein richtiger Romantiker geworden
zu sein.
René Erdbrügger
Bewertung: Sehenswert