Donnerstag, 2. Januar 2014

At the opera - "Hänsel und Gretel"


Samstag vor Weihnachten: Während ich mit meiner Familie in der Hamburger Staatsoper Ruhe und Harmonie suche, liefern sich nur wenige Kilometer entfernt die Autonomen im Schanzenviertel Straßenkämpfe mit den Polizisten. Aus dem S-Bahn-Wagen heraus war das Aufgebot der Blauen samt Wasserwerfer zu sehen. Sei’s drum. Bloß nicht die Stimmung verderben lassen.  Es ist unsere erste Oper. Wir sind festlich gekleidet. Wochen vorher wurden die Plätze online reserviert. Die Karten für 50 oder 100 Euro? Obwohl ich ohne zu zögern 100 Dollar für ein limitiertes Buch hinlege, behält der verhasste Geizhals in mir hier wieder die Oberhand. Klein fangen wir mit der Kinderoper „Hänsel und Gretel“ an. Ich habe noch Eberhard Hasenfratz‘ Worte im Ohr, dass es kaum Kinder gibt, die keine klassische Musik mögen. Der Mann ist Vorsitzender der Quickborner  Freunde der Kammermusik, selbst Musiker und muss es wissen. Auf dem Programmplan: Die Oper von Engelbert Humperdinck (1854 – 1921). Eine spätromantische Oper , die in den frühen 1890er Jahren geschrieben worden ist, basierend auf dem Märchen der Gebrüder Grimm.  Ein One-Hit-Wonder für den Komponisten, für uns jedoch eine Einstiegsdroge  in die Welt des Musiktheaters.
Die Staatsoper Hamburg. Foto: Bernd Sterzl/pixelio.de

„Wahrlich ein Meisterwerk erster Güte, zu dessen glücklicher Vollendung ich Dir meine innigsten Glückwünsche und meine vollste Bewunderung zu Füßen lege; das ist seit langer Zeit etwas, was mir imponiert hat. Welch herzerfrischender Humor, welch köstlich naive Melodik, welche Kunst und Feinheit in der Behandlung des Orchesters, welche Vollendung in der Gestaltung des Ganzen, welche blühende Erfindung, welch prachtvolle Polyphonie und alles originell!“ So schrieb 1893 kein Geringerer als Richard Strauss an Engelbert Humperdinck über dessen Märchenoper „Hänsel und Gretel“.

Die Inszenierung von Peter Beauvais ist wunderbar konservativ. Keine U-Bahn-Schächte oder  Straßenzüge, in denen zwei Kinder umherirren. Nö: Das Bühnenbild ist pittoresk. Es gibt einen bezaubernden Märchenwald, ein putziges kleines  Hexenhäuschen, das Sandmännchen und 14 wunderschöne Schutzengel. Wer will, kann Bezüge zu unserer Gegenwart erkennen: Der Vater von Hänsel und Gretel, ein Trunkenbold, der seine  Kinder arbeiten lässt und die Besen überteuert verkauft, die Mutter eine Hysterikerin, die darüber jammert, hungern zu müssen, aber übergewichtig ist und ihren Kindern Prügel androht. Das Prekariat! Hamburg hatte  2013 eine totes Kind zu betrauern. 

Hänsel wird von einer Frau gespielt,  die Macher in der Staatsoper gendern, die Hexe von einem Mann, der Tatsache geschuldet, dass diesen Part  ein Mezzosopran oder Tenor zu singen hat. Einmal fliegt die Hexe – an Stahlseilen befestigt - durch die Luft – was für ein Spaß. So kenne ich es von den Musicals im Londoner West End.

Und die Musik. Etwa achteinhalb Minuten lang dauert die Ouvertüre, ein symphonischer Prolog, der für sich allein stehen kann. Sanft klingen die Hörner, kein einziges Mal  jaulen die Geigen. Niemand verspielt sich – von meiner Loge aus kann ich den Orchestergraben mit  den Musikern sehen, die vor ihren Partituren sitzen.  Ich bin hin und weg, losgelöst, in einer anderen Zeit, versöhnt und voller Hoffnung für die Welt, weil Menschen mit ihrer schöpferischen Gabe so viel Schönheit erschaffen können. Für zwei Stunden an diesem Tag jedenfalls.

Humperdincks Musik ist ganz im Volkslied  verwurzelt. „Suse, liebe Suse“, was raschelt im Stroh“, „Ein Männlein steht im Wald“ und „Brüderchen, komm tanz mit mir“ dürfte jeder kennen.

Der Germanist in mir liebt das Libretto zu „Hänsel und Gretel“. Adelheid Wette  hat es geschrieben. Alliterationen, Lautmalereien und Reime, die zu geflügelten Worten wurden. „Mit den Füßchen tapp, tapp, tapp, mit den Händchen klapp, klapp, klapp“;  „Das tolle Tier im Magen hier, das bellte so, das glaube mir! Ra-la-la-la, ra-la-la-la, Hunger ist ein tolles Tier“; „Friss Vogel, oder stirb“ und so weiter und so fort. Applaus für die Aufführung. Ja, das gefällt mir. Sehr sogar. Das Hamburger Bildungsbürgertum ist begeistert. Meine Familie dito.

Entrückt von der Gegenwart, voller Freude und Zufriedenheit, holt uns die Realität nach der Aufführung schnell ein. Die Kämpfe im  Schanzenviertel dauern an. Vom Bahnhof Dammtor fährt kein Zug mehr. Der Busverkehr wurde ebenfalls eingeschränkt. Ich werde sauer. Mir fällt ein, was meine Oma einst gesagt hat: „Böse Menschen haben keine Lieder“. Vielleicht sollte es Opern-Besuche auf Rezept geben.                  

Text: René Erdbrügger

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