Samstag vor Weihnachten: Während ich mit meiner Familie in
der Hamburger Staatsoper Ruhe und Harmonie suche, liefern sich nur wenige
Kilometer entfernt die Autonomen im Schanzenviertel Straßenkämpfe mit den
Polizisten. Aus dem S-Bahn-Wagen heraus war das Aufgebot der Blauen samt
Wasserwerfer zu sehen. Sei’s drum. Bloß nicht die Stimmung verderben
lassen. Es ist unsere erste Oper. Wir sind festlich gekleidet. Wochen
vorher wurden die Plätze online reserviert. Die Karten für 50 oder 100 Euro?
Obwohl ich ohne zu zögern 100 Dollar für ein limitiertes Buch hinlege, behält
der verhasste Geizhals in mir hier wieder die Oberhand. Klein fangen wir mit
der Kinderoper „Hänsel und Gretel“ an. Ich habe noch Eberhard Hasenfratz‘ Worte
im Ohr, dass es kaum Kinder gibt, die keine klassische Musik mögen. Der Mann
ist Vorsitzender der Quickborner Freunde der Kammermusik, selbst Musiker
und muss es wissen. Auf dem Programmplan: Die Oper von Engelbert Humperdinck
(1854 – 1921). Eine spätromantische Oper , die in den frühen 1890er Jahren
geschrieben worden ist, basierend auf dem Märchen der Gebrüder Grimm. Ein
One-Hit-Wonder für den Komponisten, für uns jedoch eine Einstiegsdroge in
die Welt des Musiktheaters.
Die Staatsoper Hamburg. Foto: Bernd Sterzl/pixelio.de |
„Wahrlich ein Meisterwerk erster Güte, zu dessen glücklicher
Vollendung ich Dir meine innigsten Glückwünsche und meine vollste Bewunderung
zu Füßen lege; das ist seit langer Zeit etwas, was mir imponiert hat. Welch
herzerfrischender Humor, welch köstlich naive Melodik, welche Kunst und
Feinheit in der Behandlung des Orchesters, welche Vollendung in der Gestaltung
des Ganzen, welche blühende Erfindung, welch prachtvolle Polyphonie und alles
originell!“ So schrieb 1893 kein Geringerer als Richard Strauss an Engelbert
Humperdinck über dessen Märchenoper „Hänsel und Gretel“.
Die Inszenierung von Peter Beauvais ist wunderbar
konservativ. Keine U-Bahn-Schächte oder Straßenzüge, in denen zwei Kinder
umherirren. Nö: Das Bühnenbild ist pittoresk. Es gibt einen bezaubernden
Märchenwald, ein putziges kleines Hexenhäuschen, das Sandmännchen und 14
wunderschöne Schutzengel. Wer will, kann Bezüge zu unserer Gegenwart erkennen:
Der Vater von Hänsel und Gretel, ein Trunkenbold, der seine Kinder
arbeiten lässt und die Besen überteuert verkauft, die Mutter eine Hysterikerin,
die darüber jammert, hungern zu müssen, aber übergewichtig ist und ihren
Kindern Prügel androht. Das Prekariat! Hamburg hatte 2013 eine totes Kind zu
betrauern.
Hänsel wird von einer Frau gespielt, die Macher in der
Staatsoper gendern, die Hexe von einem Mann, der Tatsache geschuldet, dass
diesen Part ein Mezzosopran oder Tenor zu singen hat. Einmal fliegt die Hexe
– an Stahlseilen befestigt - durch die Luft – was für ein Spaß. So kenne ich es
von den Musicals im Londoner West End.
Und die Musik. Etwa achteinhalb Minuten lang dauert die
Ouvertüre, ein symphonischer Prolog, der für sich allein stehen kann. Sanft klingen
die Hörner, kein einziges Mal jaulen die Geigen. Niemand verspielt sich –
von meiner Loge aus kann ich den Orchestergraben mit den Musikern sehen,
die vor ihren Partituren sitzen. Ich bin hin und weg, losgelöst, in einer
anderen Zeit, versöhnt und voller Hoffnung für die Welt, weil Menschen mit
ihrer schöpferischen Gabe so viel Schönheit erschaffen können. Für zwei Stunden
an diesem Tag jedenfalls.
Humperdincks Musik ist ganz im Volkslied verwurzelt.
„Suse, liebe Suse“, was raschelt im Stroh“, „Ein Männlein steht im Wald“ und
„Brüderchen, komm tanz mit mir“ dürfte jeder kennen.
Der Germanist in mir liebt das Libretto zu „Hänsel und
Gretel“. Adelheid Wette hat es geschrieben. Alliterationen, Lautmalereien
und Reime, die zu geflügelten Worten wurden. „Mit den Füßchen tapp, tapp, tapp,
mit den Händchen klapp, klapp, klapp“; „Das tolle Tier im Magen hier, das
bellte so, das glaube mir! Ra-la-la-la, ra-la-la-la, Hunger ist ein tolles
Tier“; „Friss Vogel, oder stirb“ und so weiter und so fort. Applaus für die
Aufführung. Ja, das gefällt mir. Sehr sogar. Das Hamburger Bildungsbürgertum
ist begeistert. Meine Familie dito.
Entrückt von der Gegenwart, voller Freude und Zufriedenheit,
holt uns die Realität nach der Aufführung schnell ein. Die Kämpfe im Schanzenviertel
dauern an. Vom Bahnhof Dammtor fährt kein Zug mehr. Der Busverkehr wurde
ebenfalls eingeschränkt. Ich werde sauer. Mir fällt ein, was meine Oma einst
gesagt hat: „Böse Menschen haben keine Lieder“. Vielleicht sollte es
Opern-Besuche auf Rezept
geben.
Text: René Erdbrügger
So schrieb 1893 kein Geringerer als Richard Strauss an Engelbert ... engelbertstrausskinder.blogspot.de
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