Eine Trikolore treibt auf dem
Meer. Dann taucht die Kamera ins Wasser, durchbricht
die Oberfläche und gibt den Blick frei auf angekettete
Strafgefangene im vom Sturm aufgewühlten Wasser, das ihnen nur so um
ihre Körper peitscht. Mit vereinten Kräften ziehen sie an einem Tau, um
ein riesiges Schiff ins Trockendock zu bringen, während
sie gebeugt im Chor und im Takt zu ihrer Arbeit singen: „Look down“.
Über ihnen auf einer Mauer thront der unbarmherzige Inspektor Javert
(Russell Crowe), der Jean Valjean (Hugh Jackman), den Gefangenen
24601, besonders im Auge hat.
Von der Feindschaft dieser beiden Männer im
nachrevolutionären Frankreich des 19.Jahrhunderts, die sich im Laufe
der Jahre immer wieder begegnen und bekriegen werden, bis hin zu den
Barrikadenkämpfen der Studenten handelt unter anderem
Victor Hugos Sozialroman „Die Elenden“ (1862). Die
Theatermusicalversion „Les Misérables“ der Franzosen Claude-Michel
Schönberg und Alain Boublil, die 1985 in London Premiere feierte, läuft
immer noch mit großem Erfolg jeden Abend im West End.
Aus diesem Schatten tritt die Verfilmung
des britischen Regisseurs Tom Hooper („The King’s Speech“), die für
acht Oscars nominiert wurde und schon drei Golden Globes einheimste,
mit Glanz und Gloria heraus: Sie ist aus dem
immer seltener gewordenen Stoff, der sie zu einer der besten
Musicalverfilmungen aller Zeiten macht. Fast drei Stunden lang dauert
die Kino-Adaption, die beim Zuschauer hemmungslos auf der Klaviatur
der Gefühle spielt, aber – wenn man sich bedingungslos
darauf einlässt – eine kathartische Wirkung hat. Das erinnert an die
seelenreinigende Kraft, die von solchen Hollywood-Melodramen wie
„Ist das Leben nicht schön“, „Vom Winde verweht“ und „Der seltsame Fall
des Benjamin Button“ ausgeht.
Stilistisch hingegen sprengt „Les Misérables“
den Rahmen: Mit immer neuen, opulent ausgestatteten Settings,
schnellen Schnitten und rasanten Kamerafahrten sowie Close-Ups von
den Figuren wird die für Musicals typische Bühnenstatik
gesprengt, um einer cinematografischen Ästhetik und Wirkung Rechnung
zu tragen.
Liebe, Hass, Vergeltung und Erlösung – von
der Thematik her zeichnet „Les Misérables“ das aus, was große
Filmstoffe haben müssen, wenn sie das Herz des Zuschauers berühren
wollen. Dazu gibt es dramatische Wendungen, wie sie
nur in den großen epischen Romanen des 19. Jahrhunderts zu finden
sind: Als Jean Valjean auf Bewährung frei gelassen wird, macht er
sich auf und davon. Er beklaut einen Prieser, der ihm vergibt und die
Beute überlässt. Davon kauft sich Valjean eine
Fabrik, in der Fantine (Anne Hathaway) schuftet. Als sie den Avancen
ihres Vorarbeiters nicht nachgibt, landet sie auf der Straße– gefeuert
von Valjean in Unkenntnis der Tatsachen. Für Fantine beginnt ein
Leidensweg: Damit sie ihre kleine Tochter ernähren
kann , verkauft die junge Frau ihr Haar, ihre Zähne, ihren Körper.
Wenn die abgemagerte Hathaway mit steinerweichender, tränenerstickter
und zuletzt nur noch hauchender Stimme „Life has killed the dream I
dreamed“ singt, rührt einen das bis ins Mark.
Es ist der Gesang der geschundenen Seele, der Valjean dazu bewegt,
der sterbende Fantine zu versprechen, sich um ihre Tochter Cosette zu
kümmern.
Um diese mit Schmerz, Elend und auch Wut
getränkte Atmosphäre zu erzeugen, hat Hooper seine Hauptdarsteller
live vor der Kamera singen lassen. 50Songs. Der seichte, wenig
facettenreiche Gesang, wie man ihn von vielen Musicals
kennt, ist hier nicht zu hören: Hugh Jackman überrascht mit einem
rauen Tenor, Russell Crowe brummt den Bariton, Helena Bonham Carter
sowie Sacha Baron Cohen als fieses Wirtspaar Thénardiers bereichern
die Inszenierung mit exaltierten Duetten
und Amanda Seyfried als erwachsene Cosette betört mit ihrem
Sopran. Was kümmert da der ein oder andere schiefe Ton? Ihre
Schicksale lassen einen am Ende atemlos und erschöpft zurück – so als
hätte man selbst mit auf der Bühne gestanden.
René Erdbrügger
Bewertung: Herausragend
Erstveröffentlichung: Pinneberger Tageblatt/Flensburger Tageblatt/s:hz
Erstveröffentlichung: Pinneberger Tageblatt/Flensburger Tageblatt/s:hz
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